Gastbeitrag

Das neue Selbstverständnis der älteren Generation – auf die jungen Alten  kann nicht verzichtet werden

 

Im August 2017 erreichte uns ein Brief von Dr. Horst Nitzsch, in welchem er sich lobend über den Artikel über seinen alten Freund Horst Franke im „Birkenblatt“ äußerte. Der in Speyer lebende Erziehungswissenschaftler bot in diesem Brief auch an, einen Beitrag über die langjährige Freundschaft der einstigen Berliner Jungs aus seiner Sicht zu schildern. Diesen Vorschlag nahmen wir gerne an. Nun hat uns Dr. Nitzsch erneut angeschrieben  und mit einem längeren Artikel über die ältere Generation überrascht. Seinen folgenden Beitrag übernehmen wir ungekürzt.

Der medizinische Fortschritt ermöglicht, dass viele Menschen immer älter werden. Damit ist auch ein Wandel innerhalb der Gesellschaft verbunden. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger begreifen die Aussicht auf ein langes Leben zunehmend als Chance, sich intensiv auf den 3. Lebensabschnitt einzustellen.

In Deutschland wird den Prognosen zufolge der Anteil der über 60-Jährigen von jetzt knapp 33% bis 2030 auf ca. 45% ansteigen. Lag  die durchschnittliche Lebenserwartung in vorigem Jahrhundert noch bei ca. 47 Jahren, so liegt sie heute bereits bei ca. 75 Jahren, Tendenz steigend. Diese Veränderung der Altersstruktur war sicher auch ein Hintergrund, dass die Vereinten Nationen das Jahr 1999 zum Internationalen Jahr der Senioren erklärt hatten, um speziell auf diese Bevölkerungsgruppe aufmerksam zu machen.

Worin besteht nun der Wandel und wo werden die Veränderungen sichtbar?

Die heutigen Ruheständler sind  meist gesünder, besser ausgebildet und in der Regel auch finanziell abgesichert –  auch wenn ein Teil,  vor allem Frauen, oft mit wenig Geld auskommen müssen Wer heute mit ca. 55-60 Jahre „nach Hause“ gehen kann, verfügt in der Regel über eine hohe Fach- und Sachkompetenz, die dann oft brach liegt. Diese sog „jungen Alten“ können  ihre beruflichen Erfahrungen und Fähigkeiten innerhalb der Gesellschaft, aber auch in Vereinen, Verbänden, Kirchen und Gemeinden nutzbar machen und sich voll einbringen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich viele „aktive Alte“ in dieser Lebensphase ein neues Betätigungsfeld suchen. Oft kommt es zu einem starken Engagement in unterschiedlichen Organisationen, und vielfach gehört gerade dieser Personenkreis auch zu den treuesten und aktivsten Mitgliedern in Kirchen und Gemeinden. Das Wissen um eine gesicherte finanzielle Absicherung schafft einen Freiraum, der durch  meist ehrenamtliche Tätigkeiten in neue aktive Bahnen gelenkt werden kann.

Der Umgang mit der neuen “freien Zeit“ muss allerdings erst eingeübt und gelernt werden. Es ist daher ratsam, sich rechtzeitig auf diesen neuen Lebensabschnitt einzustellen und vorzubereiten, um so einen fließenden Übergang zu erreichen.

Die „jungen Senioren“ bringen aber auch ein neues Selbstbewusstsein mit. Sie haben in unterschiedlichen Berufen zum Teil hervorragende Arbeit geleistet und können und wollen die dadurch gewonnenen Lebenserfahrungen in den 3. Lebensabschnitt mit einbringen. Daraus entwickelt sich nicht nur ein neues Selbstverständnis für ihre eigene Situation, sondern auch ein besserer Umgang mit anderen Generationen.

Wurde früher der Begriff des Alters mit Krankheit, Hilflosigkeit, Gebrechlichkeit und manchmal auch mit Ballast verbunden, so  stehen heute Senioren für eine aktive und vielseitige Freizeit - und Lebensgestaltung mit einem neuen Selbstbewusstsein. Leider hat sich diese Erkenntnis bisher viel zu wenig durchgesetzt. In der Seniorenpolitik entsteht oft der Eindruck, dass die Debatten überwiegend um Rente und Pflege (im Minutentakt) geführt werden. Die Menschen werden aber nicht nur immer älter, sondern sie bleiben auch länger mobil und leistungsfähiger.

Die Frage ist daher nicht, was kann die Gesellschaft für die Alten tuen, sondern müsste vielmehr lauten:“ Was können die Senioren für die Gesellschaft tuen“? Die Konsum- und Freizeitindustrie hat sich längst auf diesen Personenkreis eingestellt. Seniorenreisen, Seniorenmessen, Seniorenkleidung und mehr sind fast überall zu finden. Senioren zu sein bedeutet daher heute, gut informiert, aktiv, fit und mit Witz und Geist begabt die neue Lebensphase auszufüllen und zu genießen.

Die dadurch gewonnenen Erfahrungen schaffen dieses neuen Selbstbewusstsein und die Freiräume, für ein neues Handeln im Rahmen der Generationen, das sich nicht zuletzt sehr positiv auf unsere Gesellschaft auswirken kann. Auch  die christlichen Kirchen und Gemeinden können auf diesen aktiven Personenkreis nicht verzichten. Kontakte zu Freunden innerhalb und außerhalb der Familien werden aktiviert und neue Erlebnisse in diesen Be-reichen schaffen oft auch neue Freundschaften.

Die „jungen Senioren“ als eine große gesellschaftliche Gruppe – das ist einmalig  in der Geschichte. Die Entwicklung dahin  ging so rasant vonstatten, dass kaum Zeit war, sich darauf einzustellen. Aber die Art  des Umgangs  mit dieser Bevölkerungsgruppe wird auch ein Maßstab und ein Spiegelbild für christliche Kirchen und Gemeinden sein, an denen sie sich messen lassen müssen.

Die höhere Lebenserwartung und das neue Selbstverständnis der älteren Generation wird dazu beitragen, dass immer mehr Menschen mit Erfahrung und Würde alt werden und damit zu einer Bereicherung der Gesellschaft aber auch innerhalb der einzelnen  Kirchen, Vereinen  und Gemeinden werden können.

Dr. Horst Nitsch

Dr. Horst Nitzsch