Interview mit Aydan Özoguz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

Frau Özoguz, seit wann gibt es in der Bundesrepublik eine Integrations- und Migrationsbeauftragte auf Bundesebene und was sind deren zentralen Aufgaben?

Im November 1978 hat das damalige Bundeskabinett beschlossen, einen "Beauftragten zur Förderung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen" zu berufen. Dieser Schritt war nötig, da anders als ursprünglich beabsichtigt, die von Deutschland angeworbenen ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Familien dauerhaft in der Bundesrepublik blieben. Darauf hatte sich Deutschland nicht eingestellt: Es kam zu Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Gesundheitsversorgung der Gastarbeiter und mitunter auch im Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern.

Mit der Berufung des Beauftragten wurde der Grundstein für mein heutiges Amt gelegt; seit 2005 gehört die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration zum Bundeskanzleramt. Meine Aufgabe ist es, die Bundesregierung bei der Weiterentwicklung der Integrationspolitik zu unterstützen, was heißt, dass man alle im Blick haben muss, die Eingewanderten und die jeweils ansässige Bevölkerung. Dies ist im Aufenthaltsgesetz so festgelegt. Ich muss dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Zusammenleben stimmen und es keine Diskriminierung gibt. Dazu gehört für mich, dass die Möglichkeiten zur Teilhabe gewährleistet sind und wir Chancengerechtigkeit für alle, ob mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte erreichen.

Das Jahr 2015 ist zum Schwerpunktjahr "Gesundheit und Pflege in der Einwanderungsgesellschaft" ausgerufen worden. Welche Gründe gibt es dafür?

Gesundheit ist ein hohes Gut und eine angemessene gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht. Das Gesundheitswesen in Deutschland hat einen sehr hohen Standard. Aber wir wissen, dass nicht alle Menschen gleichermaßen hiervon profitieren: Menschen mit Einwanderungsgeschichte nehmen seltener Gesundheits- und Pflegeleistungen in Anspruch, die ihnen zustehen. Das gleichberechtigte Zusammenleben aller Menschen ist aber das Fundament einer Einwanderungsgesellschaft. Auch unser Gesundheitswesen muss Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe für alle – egal welcher Herkunft – sicherstellen. Darum habe ich Gesundheit und Pflege in diesem Jahr zu meinem Schwerpunktthema gemacht.

Etwa 16 Millionen in Deutschland lebende Menschen haben eine Einwanderungsgeschichte. Vor welchen Problemen und Aufgaben steht angesichts dieser Zahl das deutsche Gesundheitswesen?

Wir treffen häufig auf das Problem, dass fehlende Deutschkenntnisse die Behandlung behindern. Unter-, Über- und Fehlversorgung sind die Folge. Im schlimmsten Fall erhält ein Patient gar keine Behandlung, weil der Arzt die Mitwirkungsmöglichkeit des Patienten nicht erkennen kann. Auch im Bereich Prävention besteht Handlungsbedarf, denn Einwanderer nehmen deutlich seltener Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch. Reha-Maßnahmen werden von ausländischen Beschäftigten zweieinhalbmal so selten in Anspruch genommen wie von deutschen Arbeitnehmern. Und zwar nur deshalb, weil die Maßnahmen einfach nicht bekannt sind. Auch die Rate der Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle ist höher: Beschäftigte mit ausländischer Staatsangehörigkeit sind überdurchschnittlich häufig davon betroffen. Eine große Herausforderung an unser Gesundheitswesen ist, alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen mit den Leistungen und Angeboten zu erreichen. Hier sind alle – Arztpraxen, Krankenhäuser, Pflegedienste und die öffentlichen Gesundheitsdienste gleichermaßen gefordert.

Was halten Sie derzeit für das drängendste Problem bei der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte?

Das dringlichste Problem ist, sich auf die alternde Bevölkerung einzustellen. Es wird zukünftig immer mehr ältere Menschen mit Einwanderungsgeschichte geben, die auf kulturell sensible Angebote angewiesen sind. In früheren Jahren benötigten Menschen mit Einwanderungsgeschichte durchschnittlich weniger Gesundheitsleistungen als die restliche Bevölkerung, da sie im Schnitt jünger und gesünder waren. Mittlerweile hat die erste Gastarbeitergeneration das Rentenalter erreicht und wird stärker als früher Gesundheits- und Pflegeleistungen in Anspruch nehmen müssen. 2012 lebten knapp 1,6 Mio. Migrantinnen und Migranten in Deutschland, die älter als 64 Jahre alt waren. Dieser Anteil wird sich 2030 voraussichtlich auf 2,8 Mio. erhöht haben. Für besonders wichtig halte ich auch die Einrichtung einer regulären Gesundheitsversorgung für Asylbewerber in Deutschland. Hier brauchen wir eine klare Regelung: Wer krank ist, muss direkt zum Arzt gehen dürfen. Bislang dürfen Asylbewerber in den meisten Bundesländern das nicht, sondern brauchen dafür erst eine Erlaubnis der zuständigen Behörden. Das halte ich für absurd.

Eine angemessene gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht. Was kann insbesondere die Pflege in Zukunft leisten, damit es ein gut funktionierendes Gesundheitsangebot für alle Menschen gibt?

Häufig sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte die Zugänge zu den Leistungen wie zu den Pflegestufen gar nicht bekannt. Mehr und bessere Aufklärung ist hier erforderlich. Insbesondere ältere Menschen brauchen zudem eine kulturell vertraute Umgebung, in der Ernährungsgewohnheiten oder auch religiöse Traditionen berücksichtigt werden. Notwendig sind daher kultursensible Angebote. Schon mit mehrsprachigen Informations- und Beratungsangeboten können Zielgruppen, die bislang nicht erreicht wurden, genauer erfasst und angesprochen werden.

Das Interview führte Volker Hütte 

Aydan ÖzoguzFoto: Bundesregierung/Denzel
Aydan Özoguz, geboren 1967 in Hamburg, studierte Anglistik, spanische Sprache und Literatur sowie Personalwirtschaft, ehe sie für die Körber-Stiftung in Hamburg arbeitete. Von 2001 bis 2008 war sie Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, seit 2009 ist sie für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestags, seit Dezember 2013 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.