Sexuelle Belästigung in der Pflege

Irgendwo zwischen Kopfschütteln, Betroffenheit und Wut dürfte die Reaktion vieler Menschen liegen, die folgende Statistik lesen: Vertraut man den Ergebnissen einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2013, dann haben in Deutschland knapp 60 Prozent aller Frauen Situationen sexueller Belästigung erlebt, 22 Prozent bei der Arbeit oder in der Ausbildung. Dazu gehören anzügliche Bemerkungen genauso wie der scheinbar joviale Klaps auf den Po, Busengrapschen oder ein eindeutiges Angebot.

An vielen Arbeitsplätzen gehen Übergriffe zumeist von Kollegen oder Vorgesetzten aus. Anders sieht es in pflegerischen Berufen aus; hier kann es auch zu Belästigungen durch Patienten oder Bewohner kommen. Die überwiegende Anzahl solcher Aufdringlichkeiten geschieht wie in allen anderen Berufen an Frauen, aber es durchaus erwähnenswert, dass es ebenso männliche Beschäftigte treffen kann.

Menschen zu pflegen, ist naturgemäß mit engem körperlichem Kontakt verbunden. Beim Kleiderwechsel, Waschen und Frisieren entstehen intime Situationen. Dem Pflegepersonal wird hier hohe Professionalität abverlangt – vor allem für Berufsanfänger und junge Menschen stellt das mitunter eine große Herausforderung  dar. Forschungen auf dem Gebiet zeigen, dass zuerst unsichere Menschen  ausgenutzt werden. Nicht selten schämen sich die Belästigten und haben sogar das Gefühl, eine Mitschuld zu tragen oder zu prüde zu sein.

„Professionelles Verhalten des Pflegepersonals sollte aber nicht so weit führen, dass man sich nicht gegen sexuelle Belästigung in Pflegeheimen oder in der ambulanten Pflege wehrt“, warnt Gabriele Tammen-Parr. Die Diplom-Sozialpädagogin ist Mitgründerin von „Pflege in Not“, einer Berliner Beratungsstelle bei Konflikten und Gewalt in der Pflege. Als Expertin für den gesamten Themenbereich plädiert sie dafür, die Dinge klar zu benennen: „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist eine Form der Gewalt. Wer das unterbinden möchte, sollte davon berichten, auf alle Fälle auch den Vorgesetzten davon erzählen und sich Rat einholen.“

Laut Arbeitsschutzgesetz steht der Arbeitgeber sogar  in der Pflicht, mit einer Gefährdungsbeurteilung geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Unerwünschte Belästigungen oder sexuelle Übergriffe sind demnach wie andere Gefährdungen am Arbeitsplatz zu erfassen und zu bewerten. Die Vorgesetzten sind also aufgefordert klarstellen, dass sexuell belästigende Verhaltensweisen, von wem auch immer, nicht toleriert werden. Sie haben jeden Bericht über einen Vorfall ernst zu nehmen und die Belästigten vorurteilsfrei zu unterstützen. Auch Gespräche mit Kolleginnen könnten helfen, denn dabei stellt sich manchmal heraus, dass der betreffende Patient schon mehrere Frauen belästigt hat. Gemeinsam trauen sich erfahrungsgemäß viele Opfer eher, gegen einen Täter vorzugehen.

Erstaunlich ist es, dass es bundesweit kaum  Fortbildungsangebote für das Thema sexuelle Belästigung in der Pflege gibt. Wenn es überhaupt behandelt wird, dann häufig nur als Teilaspekt von Gewalt in der Pflege. Immerhin hat vor zwei Jahren die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) in einer Medienkampagne darauf aufmerksam gemacht, dass in ihrer Branche sexuelle Übergriffe alltäglich sind. Es spricht für die Ernsthaftigkeit der Kampagne, dass konkrete Handlungsvorschläge für Betroffene gegenüber dem Belästiger publiziert werden.

In Übergriffsituationen empfehlen die BGW-Experten eine verbale Reaktion in drei Schritten. Als ersten Schritt das Beschreiben, zum Beispiel: „Herr Mustermann, Sie berühren mich auffällig oft“, dann das Benennen der Wirkung: „Ich möchte Ihnen ganz klar sagen, dass mir das unangenehm ist“, schließlich die Forderung nach dem erwünschten Verhalten: „Bitte lassen Sie das!“, oder auch schärfer: „Finger weg! Ich will das nicht!“

Bei allen Gedanken an den Schutz, den das Pflegepersonal in solchen Situationen von verantwortungsbewussten Vorgesetzten erhalten sollte, gibt es noch einen weiteren Gesichtspunkt, der Beachtung verdienen sollte. Sexualität gehört zu unserem ganzen Leben. „Das sexuelle Bedürfnis stirbt zum Schluss“, weiß Gabriele Tammen-Parr. Auch durch eine Demenz erlischt das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Nähe nicht, es flammt mitunter sogar heftig auf. Um dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen, hat sich in den letzten Jahren ein neuer Berufszweig etabliert. Sexualassistentinnen nennen sich Frauen, die neben Gesprächen und Beratungen auch Massagen und Zärtlichkeit anbieten. Küsse und Geschlechtsverkehr sind tabu, alles andere ist erlaubt. Ihre Klienten sind Menschen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen, seit Neuestem auch demenziell erkrankte Menschen. 

Studien der letzten Jahre haben ergeben, dass Demenzkranke ihre Lust völlig ungeniert zeigen; ihre Krankheit lässt alle früher möglicherweise vorhandenen Hemmschwellen sinken, was Angehörige und Pflegepersonal vor gewaltige Probleme stellen kann. In der Demenz gibt es also keine Kontrollmechanismen mehr. Seriöse Untersuchungen haben nun ergeben, dass – zahlbare – regelmäßige Dienstleistungen von Sexualassistentinnen das sexualisierte Verhalten der Klienten deutlich verringert und ihr Wohlbefinden sich verbessert.

Um gar kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Nicht jeder sexuelle Belästiger im Pflegealltag ist dement, und jeder, auch ein Dementer, der seine sexuellen Bedürfnisse aggressiv gegenüber dem Pflegepersonal zeigt, muss in die Grenzen gewiesen werden. Ob Angebote von Sexualassistentinnen eine allgemeine Akzeptanz finden, wird die Zukunft zeigen. Pflegeeinrichtungen sollten in jedem Fall über einen konkreten Plan zum Vorgehen bei Übergriffen verfügen, der auch mit dem Team abgestimmt ist. Dazu gehört eine sofortige konsequente Reaktion – im Wiederholungsfall bis zur Ablehnung der Weiterbehandlung des Belästigers.

VH

Foto: privat