Warum aus Pflegestufen zukünftig Pflegegrade werden

Das deutsche Gesundheitswesen und mit ihm alle Pflegebedürftigen und alle an der Pflege beteiligten Akteure müssen sich an eine ein-schneidende Änderung und an einen neuen Begriff gewöhnen. In gut einem Jahr, genauer ab dem 1. Januar 2017, wird es die seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 gültigen Pflegestufen nicht mehr geben. An ihrer Stelle wird in Zukunft von sogenannten Pflegegraden gesprochen. Grundlage hierfür ist der Kabinettsentwurf der Bundesregierung für das Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II), der am 25. September in erster Lesung im Bundestag beraten wurde.

Mit diesem Gesetz wird der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Praxis umgesetzt. Das Gesetz soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten. Das neue Begutachtungsverfahren und die Umstellung der Leistungsbeträge der Pflegeversicherung sollen zum 1. Januar 2017 wirksam werden. Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit wird bis dahin mit den bekannten Pflegestufen beschrieben: eins, zwei und drei für erhebliche, schwere und schwerste Pflegebedürftigkeit. Von einer „Pflegestufe 0“ wird außerdem gesprochen, wenn zwar ein Hilfebedarf bei der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung vorhanden ist, aber nicht in einem Umfang; der nach den Definitionskriterien als erheblich gilt, oder wenn ein Betreuungsbedarf besteht, der sich nicht auf die definierten Alltagsverrichtungen bezieht. Dies ist häufig bei Demenzkranken der Fall.

Warum aber wird das 20 Jahre gültige System nun geändert? Mit den aktuellen Reformen der beiden Pflegestärkungsgesetze sollen nicht einfach nur größere Geldsummen in das System der Pflegeversicherung fließen, sondern auch tiefgreifende strukturelle Veränderungen herbeigeführt werden. Lange war von vielen Fachleuten vergeblich gefordert worden, die Unterscheidung zwischen Pflegebedürftigen mit körperlichen Einschränkungen einerseits und Pflegebedürftigen mit kognitiven und psychischen Einschränkungen – insbesondere Demenzkranke – andererseits aufzuheben. Nach jahrelangem Diskutieren und Abwägen wird nun endlich die Pflegeversicherung auf eine neue Basis gestellt. Mit der Reform wird der individuelle Unterstützungsbedarf im Mittelpunkt stehen, also die Selbständigkeit beziehungsweise die Unselbständigkeit der einzelnen pflegebedürftigen Versicherten. Diese Leistungsverbesserungen werden durch ein Anheben der Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,2 Prozent finanziert.

Was kann ein Patient noch alleine und wobei benötigt er Unterstützung?, lautet deshalb künftig die entscheidende Frage zur Beurteilung, die für Demenzkranke genauso gilt wie für Menschen mit körperlichen Defiziten. Ausgangspunkt aller Rangfolgen von Bedürftigkeit wird ab Januar 2017 der selbständige Patient sein. Das Stadium der Bedürftigkeit wird in fünf Grade unterteilt, wobei die geringe Beeinträchtigung mit Pflegegrad 1 beschrieben und die schwerste Beeinträchtigung mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung und an die Pflegenden mit Pflegegrad 5 beschrieben wird.

Wie aber wird nach diesem neuen System der Grad der Unselbständigkeit eines Versicherten gemessen? Hierzu ist es wichtig zu wissen, dass nicht wie nach der alten Methode die Zeit veranschlagt wird, die zur Pflege benötigt wird, sondern vielmehr Punkte vergeben werden, die darstellen, inwieweit die Selbständigkeit einer Person eingeschränkt ist. Das wiederum setzt voraus, dass mit der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs auch ein neues Begutachtungssystem etabliert werden muss. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung als koordinierende Einrichtung hat ein solches System bereits in die Wege geleitet. Die zwei Modellprojekte durchliefen sehr erfolgreich die Umsetzungsphase, und die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung werden bereits auf die verbesserte Methodik geschult.

Mit der Begutachtung wird der Grad der Selbstständigkeit in sechs verschiedenen Bereichen gemessen und mit unterschiedlicher Gewichtung zu einer Gesamtbewertung zusammengeführt. Daraus ergibt sich die Einstufung in einen Pflegegrad. Die sechs Bereiche sind: Mobilität, Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.

Konkret gilt die Formel: Menschen mit aus-schließlich körperlichen Einschränkungen werden automatisch in den nächst höheren Pflegegrad übergeleitet. (Beispiele: Pflegestufe I wird in Pflegegrad 2, Pflegestufe III wird in Pflegegrad 4 übergeleitet). Menschen mit geistigen Einschränkungen wie Demenz kommen automatisch in den übernächsten Pflegegrad. 

VH

Foto: Bundesregierung/Henning Schacht
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat die Reform vorangetrieben