AIDS-in Europa eine vergessene Gefahr?

Ist es wirklich schon 36 Jahre her, als die Welt von einer Virus-Erkrankung erfuhr, die als nicht heilbar eingestuft wurde und damals noch unabwendbar zum Tod führte? Im Jahr 1981 wurde in den USA diese Erkrankung erstmalig beschrieben, und bereits Ende desselben Jahres waren einige Hundert Menschen registriert, von denen schon etwa ein Viertel gestorben war. Als Ursache wurde in den alarmierten medizinischen Fachkreisen eine erworbene Immunschwäche als wahrscheinlich angesehen. Frühe Thesen gingen von einer ausschließlich durch Geschlechtsverkehr übertragbaren Krankheit aus, die sich überwiegend bei Homosexuellen feststellen ließ, ehe weitere epidemiologische Untersuchungen jedoch bewiesen, dass die Krankheit auch unter Hämophilen („Blutern“), Blutempfängern und heterosexuellen Drogenabhängigen auftrat.

Plötzlich sprach man von einer Epidemie, zunächst namenlos, dann mit einem kurzen Wort, das aus vier Anfangsbuchstaben einer Diagnose besteht, die zu einem der Unheil      verkündendsten Begriffe der jüngeren menschlichen Geschichte anwuchs: acquired immunodeficiency symdrome, abgekürzt AIDS.

Die Krankheit wurde schnell zum Synonym für eine menschheitsbedrohende Epidemie. In Deutschland beispielsweise existierte bis 1988 eine jährliche Verdoppelung von AIDS-Neuerkrankungen, erst danach verringerte sich der Anstieg, bis er sich seit 1993 auf etwa gleichem Niveau einpendelte. Viel, sehr viel wurde seitdem weltweit von Wissenschaftlern, Betroffenen, Angehörigen und Freiwilligen unternommen, um die Krankheit AIDS und den HI-Virus zu bekämpfen oder einzudämmen.

Insgesamt haben sich bisher fast 75 Millionen Menschen weltweit mit dem HI-Virus infiziert. Heute weiß man definitiv, dass die Krankheit von Affen auf Menschen übertragen wurde. Die ältesten HIV-Sequenzen stammen aus zwei Blutproben, die Ende der Fünfzigerjahre in Kinshasa entnommen wurden, der Hauptstadt der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Aus Analysen von Erregervarianten aus der Region erstellten  Forscher  einen HIV-Stammbaum, den sie mit historischen Daten abglichen. Die Analyse bestätigt, dass die Übertragung auf den Menschen vermutlich vor 1920 im südlichen Kamerun erfolgte.

 „Gib Aids keine Chance“ – unter diesem Motto wurde lange und intensiv für Kondome geworben. Dass tatsächlich am ehesten Kondome schützen, weiß seit den achtziger Jahren hierzulande deshalb jedes Kind. Doch seit kurzem gibt es auch Tabletten zur Prävention. Menschen mit hohem Risiko für eine HIV-Infektion können sich künftig in der gesamten Europäischen Union mit dem Medikament Truvada (mit dem Wirkstoff Tenovofir) schützen. Die EU-Kommission hat das Mittel im August 2016 unter Auflagen in der Europäischen Union freigegeben, in den USA ist es schon seit 2012 offiziell erhältlich.

Truvada ist ein Medikament der sogenannten Präexpositionprophylaxe (PrEP), bei der die Tabletten prophylaktisch, also schon vor einer gefährdenden Situation (wie einem ungeschützten Geschlechtsverkehr) eingenommen werden, um sich vor einer möglichen HIV-Infektion zu schützen. Diese Variante ist sinnvoll  etwa bei Prostituierten oder bei schwulen und bisexuellen Männern, die häufig wechselnde Sexualpartner haben oder mit einem positiven Partner zusammen leben.

Bei der Postexpositionsprophylaxe (PeP), der Pille danach, gilt die Regel: Wer einen Risikokontakt hatte, sollte innerhalb von 48 Stunden eine entsprechende Medikamentenmixtur für mehrere Wochen einnehmen. So kann verhindert werden, dass sich das HI-Virus im Körper ausbreiten kann. Die Standard-Therapie besteht derzeit aus einer Kombination des Integrase-Hemmers Isentress, das zweimal täglich einzunehmen ist, und einmal täglich Truvada.

Um die 800 Euro muss für eine benötigte Monatsration bei einer PrEP bezahlt werden, bei der Pille danach ist es noch etwas teurer. Die deutsche AIDS-Hilfe fordert nun die Kostenübernahme der medikamentösen HIV-Prophylaxen in Deutschland durch die Krankenkassen, denn PrEP sei billiger als die dreifach teurere, lebenslange Behandlung eines bereits Infizierten. Befürchtet wird allerdings auch, dass die Verbreitung der PrEP zu einem erhöhten Risikoverhalten und einer Aufweichung der Prävention führen könnte.

So aufbauend und erfreulich die medizinische Weiterentwicklung auch sein mag – für die Präventionsarbeit der großen AIDS-Verbände ist sie eher erschwerend. Seitdem die Formel „AIDS = Tod“ nicht mehr galt, hatte die Krankheit ohnehin schon an Schrecken verloren. Mit der Aussicht auf medikamentöse Vor- und Nachbehandlung wird die Prävention wohl noch weniger beachtet werden. Daraus ergibt sich eine neue Sachlage, der sich AIDS-Hilfe und andere Verbände zu stellen haben: weniger Schrecken bedeutet größere Fahrlässigkeit, und dieser Trend ist bei allen Risikogruppen, aber auch bei anderen erkennbar.

So denken beispielsweise Frauen zu selten an HIV, mahnt die AIDS-Hilfe. Darum werde eine Infektion bei Frauen oft später erkannt als bei schwulen Männern –  manchmal zu spät. In Deutschland leben etwa 80.000 Menschen mit HIV, ungefähr 15.000 von ihnen sind Frauen, also nur knapp 20 Prozent. Eine besonders fahrlässige Gruppe sind neuen Untersuchungen zufolge Frauen in oder nach den Wechseljahren. Nur weil dann die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft gegen Null tendiert, heißt das noch lange nicht, dass sie sich nicht mit dem HI-Virus anstecken könnten. Ohnehin hat sich die Frauen-Präventionsarbeit zu lange fast ausschließlich auf die Prostituierten konzentriert, ein Fehler, wie Fachleute heute sagen.

Unterdessen hat die Deutsche AIDS-Hilfe den Hersteller von Truvada bereits zu einer Preissenkung aufgefordert, um das Mittel allgemein zugänglich zu machen. Man fürchtet, dass Infizierte mit schmalerem Geldbeutel auf  ein indisches Nachahmpräparat, ein Generikum, zurückgreifen, das monatlich etwa 60 Euro kostet. Die Gefahr bei diesem Generikum ist:  man wird weder zur Einnahme noch zur Vorbeugung beraten. Die Konsequenzen mag man sich lieber nicht vorstellen.      

VH

Plakat der Kampagne "Gib AIDS keine Chance-Liebesleben"