Ein Durchbruch im Kampf gegen die Pflegemafia?

Wenige Tage nach der Autorisierung des Interviews mit Gesundheitssenatorin Dilek Kolat für diese Ausgabe von „Birkenblatt“ (siehe: Seiten 4-5) gab zu einem Aspekt dieses Interviews eine unvorhergesehene Entwicklung. In fast allen großen deutschen Tageszeitungen wurde über den Abschlussbericht einer Sonderermittlungsgruppe von Bundeskriminalamt und Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen berichtet, der detailliert Auskunft gibt über kriminelle Machenschaften in der ambulanten Pflege. Ende August begann in Düsseldorf auf Grundlage dieses Berichts ein großangelegter Prozess gegen neun osteuropäische Männer und Frauen, denen bandenmäßiger Betrug in Höhe von mindestens 8,5 Millionen Euro vorgeworfen wird. Nach vielen Jahren der Mutmaßungen und der erfolglosen Ermittlungen gegen das bundesweit agierende Betrugsnetzwerk ist dies ein erster durchschlagender Erfolg.

Wie groß der Schaden für die deutsche Volkswirtschaft insgesamt tatsächlich ist, lässt sich erahnen, wenn man in dem Bericht liest, dass von etwa 230 – zumeist osteuropäischen – betrügerisch arbeitenden Pflegediensten bundesweit ausgegangen wird. Dass inzwischen von Milliardenschäden durch die Pflegemafia gesprochen wird, dürfte nicht übertrieben sein. Die kriminellen Netzwerke, deren Einzelunternehmer untereinander verbunden sein sollen, werden von Berlin aus zentral gesteuert, sind aber auch in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern höchst aktiv.

Die Arbeitsweise der unseriösen Pflegedienste läuft nahezu immer nach folgendem oder ähnlichem Schema: Ein Arzt, ein Pflegeunternehmer und weitere als Pflegehelfer angestellte Mitarbeiter schließen sich zusammen. Sie fragen ältere Menschen, die auch aus dem Umfeld der eigenen Familie stammen können, ob sie etwas dazuverdienen wollen. Nach deren Einverständnis wird der Arzt beauftragt, ihnen die Pflegebedürftigkeit zu bescheinigen. Die Scheinpatienten werden aufgefordert, bei Kontrollen des zuständigen Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) zu simulieren: leichtes Stöhnen, gebeugte Haltung, winzige Trippelschritte – ganz so, als bräuchten sie pflegerische Unterstützung.

Läuft für die betrügerischen Unternehmen alles nach Plan, wird dann nach dem MDK-Bericht von der Pflegekasse ein Pflegegrad  festgesetzt. Das Unternehmen kann nun für Pflegemaßnahmen Rechnungen stellen, die gar nicht nötig sind und auch nie erbracht wurden. Im Betrugssystem der Düsseldorfer Angeklagten rechneten gleich mehrere Pflegedienste für 250 Scheinpatienten teure medizinische und pflegerische Leistungen ab. Perfide an der ganzen Angelegenheit: die meisten dieser Patienten bekamen überhaupt keine Besuche von Krankenschwestern oder Altenpflegern. Wie die geständige Geschäftsführerin eines angeklagten Unternehmens mitteilte, schickte sie stattdessen ungelernte Putzkräfte vorbei, die für ihre Haushaltstätigkeiten einen Minijob bis zu 450 Euro bekamen.

Um die als kranke Patienten fungierenden älteren Menschen bei Laune zu halten, wurden ihnen kleinere und bei besonders hohem Betrug auch größere Geldzuwendungen überreicht. Zwischen 100 und 800 Euro hoch sollen die Beträge gewesen sein, wie die frühere Geschäftsführerin gestand. Der Vorteil für die Unternehmen liegt auf der Hand: Die Scheinpatienten werden Teil des Betrugs und sind im Zweifelsfall auch erpressbar, wenn sie etwa vorhaben sollten auszusteigen.

Das Berliner Landeskriminalamt (LKA) als ermittelnde Behörde hat inzwischen für einige Pflegebetriebe eine Verbindung zur organisierten Kriminalität nachgewiesen. Die Vorwürfe lesen sich wie Passagen aus dem Drehbuch eines Mafiafilms, sind aber leider harte Realität.  Die Gründung von Scheinfirmen im In- und Ausland, eine  hierarchische Struktur innerhalb der verschiedenen Gruppen, die augenscheinliche Verflechtung der Beteiligten mit der Glücksspielbranche – bis hin zur Androhung oder gar Anwendung von Gewalt gehören dazu.

Nach Jahren der zähen und frustrierenden Ermittlungen, die auch in der seriös arbeitenden Pflegebranche mit wachsender Sorge betrachtet wurden, scheint nun der Rechtsstaat zurückschlagen zu können. Wie die Berliner Morgenpost im August berichtete, sollen laut Justizverwaltung unter der Voraussetzung, dass der Haushaltsentwurf für 2018/2019 beschlossen wird, drei zusätzliche Staatsanwälte den Kampf gegen die Pflegemafia aufnehmen. Damit würde endlich eine Kernforderung des Bezirksbürgermeisters von Berlin-Mitte Stephan von Dassel umgesetzt werden. Von Dassel kämpft seit Jahren gegen die mafiösen Pflegeunternehmen und kritisiert immer wieder die katastrophale juristische Aufarbeitung des Pflegebetruges. Trotz umfassender und präziser Vorarbeiten von Sozialämtern und Polizei und ergebnisreichen Hausdurchsuchungen seien viele Fälle oft über Jahre nicht zur Anklage gekommen.

Nur unter diesen Voraussetzungen kann auch der Plan von Gesundheitssenatorin Dilek Kolat aufgehen, mit den zusätzlichen zwei Kontrolleuren pro Bezirk mehr Betrug in der Pflege als bisher aufzudecken und den Geldschaden zurückzufordern. Wie die Berliner Morgenpost ermittelte, „fordert die Hauptstadt nach aktuellstem Stand vom März dieses Jahres 3,4 Millionen Euro unberechtigt bezahlte Leistungen zurück. Tatsächlich zurückgezahlt wurden aber erst wenige Zehntausend Euro. Derzeit werden Dutzende Klagen gegen die Betroffenen vorbereitet.“

Den Forderungen stehen aber auch erste bedeutende Erfolge gegenüber. Die Kontrolleure deckten inzwischen bis zu 590.000 Euro monatlich an Pflege-Betrug und unberechtigt beantragten Leistungen auf – und besonders wichtig: Sie kamen den Betrügern auf die Schliche bevor das Geld ausgezahlt wurde. Allein 90 Verfahren sind zurzeit in Berlin anhängig. Hinzu kommen weitere, die noch beim Landeskriminalamt liegen und noch nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurden. Die Hoffnung wird größer, dass vielen von ihnen das schmutzige Handwerk gelegt werden kann.                          

 

VH

Foto: A.Savin
Ermittelnde Behörde: Das Berliner Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm