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Gedanken über Nina Böhmers „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“
Der Tag an dem der 28-jährigen Gesundheits- und Krankenpflegerin Nina Böhmer der Kragen platzte, ist im sozialen Netzwerk Facebook genau notiert. Es war am Nachmittag des 23. März 2020, als sie erfuhr, dass das Robert-Koch-Institut eine aktuelle Empfehlung herausgegeben hatte. Demnach sollte medizinisches Personal künftig nach engem, ungeschützten Kontakt zu COVID-19-Erkrankten nicht mehr 14 Tage in Quarantäne, und bei Bedarf in der Klinik oder der Praxis sollte es weiterarbeiten, solange keine Symptome auftreten. Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch beschloss die in einem Berliner Krankenhaus arbeitende Nina Böhmer, diese Wut nicht abklingen zu lassen, sondern auf der Stelle einen Beitrag für das soziale Netzwerk Facebook zu verfassen. So schrieb sie unter anderem:
„Fassen wir mal zusammen: Erst sollen wir Mundschutz und Schutzkittel für mehrere Patienten benutzen. Wir sollen weiterarbeiten, wenn wir Kontakt zu einem Corona/Covid-19-Patienten hatten. Dann werden Personaluntergrenzen ausgesetzt, für die lange gekämpft wurde. Das heißt, … es könnte eine Pflegekraft 50 Patienten betreuen.
Und jetzt müssen wir nicht mehr in Quarantäne nach Kontakt, wir können ja schon früher zur Arbeit gerufen werden … In einem Beruf, der jahrelang unterbezahlt ist … wo alle am Limit arbeiten … wir sollen jetzt die Helden sein und werden so behandelt?“
Ich bin richtig doll traurig und enttäuscht … und ich kann es nicht fassen … Und euer Klatschen könnt ihr euch sonst wohin stecken, ehrlich gesagt. … Tut mir leid, es so zu sagen, aber wenn ihr helfen wollt oder zeigen wollt, wie viel wir wert sind, dann helft uns, für bessere Bedingungen zu kämpfen!“
Was die Krankenpflegerin nach eigenen Angaben nicht bedacht hatte: sie hatte ihre Facebook-Einstellungen auf „öffentlich“. Das bedeutete, dass jeder, der bei Facebook ist, ihre Botschaft lesen konnte, nicht nur ihr Freundeskreis, für den die Nachricht eigentlich gedacht war.
Und plötzlich geschah etwas, womit niemand, am wenigsten die Beitragsautorin selbst, rechnen konnte: Der Facebook-Post wurde tausendfach gelesen und wohlwollend kommentiert. Nina Böhmer erhielt viele ermunternde Antworten, ja Bewunderung für ihre klaren und mutigen Worte. Erste Medienportale begannen, Berichte über sie und ihren Beitrag zu veröffentlichen, Zeitungen und Fernsehsender fragten an, baten um Interviews und interessierten sich für ihr Leben.
Das verlief bislang wenig spektakulär. Geboren wurde sie 1992 in Brandenburg. Nach Schulzeit und Abschluss als staatlich anerkannte Sozialassistentin absolvierte sie eine Ausbildung zur Pflegehelferin, im Jahr 2012 dann eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. Zum Arbeitsfeld hat sie sich die stationäre Pflege ausgesucht und arbeitet in einem Berliner Krankenhaus.
Wenige Wochen nach ihrer Facebook-Botschaft und der Rückendeckung von 85.000 Personen, die ihren Beitrag mit einem „like“ (zu Deutsch: „mag ich“) versehen hatten, begann sie, sich des Themas in einer noch offensiveren Weise anzunehmen. Sie schrieb ein Buch innerhalb von drei Monaten und gab ihm den Titel: „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken.“ Im Juli erschien das Werk bei HarperCollins, und es wurde ein unerwarteter Erfolg. In der Spiegel-Bestsellerliste Taschenbuch/Sachbücher erreichte es als vorläufig beste Platzierung Rang 16. Das ist für eine Autorin mit einem Erstlingswerk höchst außergewöhnlich.
Warum aber sind ihre Facebook-Botschaft und ihr Buch so erfolgreich?
Dafür gibt es sicherlich mehrere Gründe. Zum einen ist es die freimütige, unverblümte und schonungslose Art und Weise, wie Nina Böhmer ihre Gedanken direkt aus dem Herzen formuliert. Sie ist in ihrem Handeln zielgerichtet, und das Ziel ist immer, dass sich die Zustände hierzulande ändern. Damit spricht sie Zigtausenden von BerufskollegInnen aus der Seele und greift zugleich die politisch Verantwortlichen massiv wegen ihrer halbherzigen Versprechen der Vergangenheit und ihrer Hinhaltetaktik an.
Zum anderen ist sie authentisch und konsequent zugleich. Sie bleibt akribisch bei ihren Kernaussage, die da heißen: wir sind am Limit, haben extremen Stress und schlechte Bezahlung – und durch die Corona-Krise hat sich alles noch einmal dramatisch verschlechtert. Aber ihr ist bewusst, dass sie die Corona-Pandemie nicht instrumentalisieren darf. „Den Medien geht es … immer nur noch um Corona. Das unterstütze ich nicht“, schreibt sie. „Meine Meinung ist, dass in der Pflege schon immer unzumutbare Zustände geherrscht haben und niemand aus der Politik dagegen etwas unternommen hat. Sie erwähnt das ermüdende Schichtsystem, den Sexismus auf Station und das ihrer Meinung nach kranke Gesundheitssystem, das zu sehr auf Profitmaximierung ausgerichtet ist. Corona, ahnt sie, ist nur der Grund, warum man der Pflege (und ihr!) jetzt zuhört und nicht der Grund für die Zustände.
Nicht zuletzt wirkt Nina Böhmer bei all ihrer Wut und Empörung sympathisch und ehrlich. Wenn sie bemerkt, dass sie keinen Applaus für ihre Arbeit möchte, – trotz der erschwerten Voraussetzungen – weil sie ihn als zynisch empfinde, dann schreibt sie zugleich, dass ihr natürlich bewusst sei, dass der Beifall freundlich gemeint sei. „Ich empfinde das Klatschen nicht als Ausdruck der Wertschätzung für unsere eigentliche Arbeit, sondern gegen etwas, was in Deutschland längst nicht so gravierend war wie in Italien, England oder Spanien: das Coronavirus. Der Beifall galt nicht den Pflegern und Krankenschwestern, sondern sollte die eigene Angst vertreiben.“
Wenn man etwas von Nina Böhmer lernen kann, dann ist es, Empörung und Frustration zu kanalisieren in positive Energie. Aus Wut und Ärger begann sie, die Dinge aufzuzeichnen, wie sie sich ihr darstellen. Doch sie hat viel mehr erreicht als eine persönliche Frustrationsbewältigung. Sie ist zu einer weiteren ernst zu nehmenden Stimme gegen das „Weiter-so“ geworden. Und von denen kann es nie zu viele geben.
VH