Gestern und Heute

Ruth Reiss erzählt

 

„Wissen Sie eigentlich“, beginnt Ruth Reiss* unser Gespräch, „dass ich im nächsten Jahr 70 Jahre lang in dieser Wohnung lebe?“ Und da wir schon beim Thema Wohnung sind, erzählt die Jahnke-Patientin von den Nachkriegs-Wirren im zerstörten Berlin, dem verzweifelten Suchen nach Arbeit und nach einem Dach über dem Kopf und von großen Glücksgefühlen in der Not. Damals, Anfang der 1950er Jahre, wohnte in nahezu jedem Wohnungszimmer ein Paar oder eine Kleinfamilie.

Ruth hatte 1952 Arthur Reiss geheiratet, ihren Freund und Vertrauten von Kindheit an. Eines Tages lasen sie an der Bremer Straße in Moabit auf einen Aushang, dass ein Zimmer in der Perleberger Straße zu vermieten sei. Die Hauptmieterin, eine ältere Dame, hatte sich das Recht erkämpft, ihre Untermieter selbst aussuchen zu dürfen. Als Arthur schließlich vorbeikam und sich vorstellte, erinnerte er die Dame an ihren verstorbenen Sohn und erhielt deshalb das Zimmer, das er mit seiner frischgebackenen Ehefrau bezog. Kurz nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Jürgen 1954 verstarb die Vermieterin. Der Mietvertrag ging an die Familie Reiss über, die nach einiger Zeit auch das dritte und letzte Zimmer übernahm. Kein Wunder also, dass Ruth Reiss eine sentimentale Beziehung zu dieser Wohnung hat!

Geboren wurde Ruth Reiss 1928 in Hinterpommern, auch Ostpommern genannt. Tornow hieß ihr im Kreis Saatzig gelegener Geburtsort, der heute auf Polnisch Tarnowo Pomorskie geschrieben wird. Ihre Eltern hatten einen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem die fünf Kinder, allesamt Mädchen, schon von klein auf mithalfen. Arbeitsam, aber herrlich waren Kindheit und Jugend, bis der Krieg auch nach Pommern kam und die gesamte Familie auf einem Flüchtlingstreck mit dem Pferdekarren vor der Roten Armee Richtung Westen floh. Eine Odyssee über die Oder nach Mecklenburg begann für die Familie, der Vater versuchte zwischenzeitlich vergeblich, wieder zurück nach Pommern zu gelangen. Er verstarb 1949, Frau und Kinder hat er nie mehr gesehen.

In Berlin angekommen hatte seine Tochter Ruth wie erwähnt weitaus größeres Glück. Während ihr Mann Arthur sich durch großen Fleiß  und durch ein Fernstudium vom Wagenwäscher und Reserveschaffner bei der BVG hocharbeitete zum Hauptsacharbeiter im Konstruktionsbüro des Unternehmens, arbeitete Ruth Reiss bei einem Juwelier in der Turmstraße als Reinigungskraft. Sie galt als große Vertrauensperson im Unternehmen und blieb dort 23 Jahre lang. In ihrer Freizeit verrichtete sie mit Leidenschaft Handarbeiten: das Stricken, Häkeln, Sticken und Nähen blieb ihr großes Hobby. Auch das Reisen begeisterte das Paar, das 60 Jahre lang in Harmonie zusammenlebte. „Wenn wir im Februar auf die Kanaren flogen, war nach der Rückkehr in Berlin der Frühling ausgebrochen“, erinnert sie sich gerne.  Die rüstige 93-Jährige wird zwar von der Pflegestation Jahnke betreut, aber einmal täglich geht sie zumindest die Treppen runter und dann wieder hoch – zurück in die geliebte Wohnung.

VH

*Name von der Redaktion geändert

 

 

Lebt seit fast 70 Jahren in derselben Wohnung - Jahnke Patientin Ruth Reiss