Birkenblatt
Im Brennpunkt
Der Apotheken-Notdienst – zu viele Kunden kommen ohne Not!
Wer kennt diese unangenehmen und peinigenden Momente nicht? Am späten Abend treten plötzlich rasende Kopfschmerzen auf, doch die rettende Packung schmerzstillender Tabletten ist verbraucht. Zwei Häuser weiter wird jemand von hohem Fieber geplagt, eine weitere Person leidet unter einer heftigen Asthmaattacke. In allen Fällen sind die Betroffenen unvorbereitet, Medikamente nicht verfügbar. Was bleibt, ist der Gang zur Notdienstapotheke. Ein kurzer Blick ins Internet oder auf die heruntergeladene ApothekenApp auf dem Handy verraten den nächsten Standort eines Notdienstes. Wer keinen Internetzugang hat, erfährt dies im Schaufenster einer jeden Apotheke.
Im Jahr 2019 gab es in Berlin 776 Apotheken, zehn Jahre zuvor waren es noch 884. Das bedeutet, dass jede einzelne Apotheke eine größere Anzahl von Kunden bedienen muss und das in einer Stadt, die jedes Jahr einen beträchtlichen Einwohnerzuwachs verzeichnet. Und das bedeutet ebenso, dass jede Apotheke in der Hauptstadt noch mehr Notdienste leisten muss als ohnehin schon. Zwischen vier und sechs Notdienste pro Quartal sind es in Berlin im Durchschnitt.
Deutschlandweit sind es ungefähr 20.000 Menschen pro Nacht, die den Apotheken-Notdienst in Anspruch nehmen. Etwa die Hälfte von ihnen kommt direkt in die Apotheke, die andere Hälfte war zuvor in einer ärztlichen Notaufnahme. Während des Notdienstes dürfen von Apotheken nur Arznei-, Krankenpflege-, Desinfektions- Säuglingspflege- und Säuglingsnährmittel und hygienische Artikel verkauft werden. Da die Abgabe von Arzneimitteln im Notdienst eine pharmazeutische Tätigkeit darstellt, muss grundsätzlich ein/e ApothekerIn anwesend sein.Die Apothekenkammern tragen Sorge dafür, dass dieses unverzichtbare Dienstleistungsangebot zuverlässig funktioniert.
Doch das eigentlich sinnvolle und solidarisch ausgearbeitete System hat in letzter Zeit tiefe Risse bekommen Schuld daran hat primär nicht die Häufigkeit der Notdienste, sondern vielmehr die ausufernde Anzahl der Kunden bei häufig gleichzeitiger Banalität ihrer Wünsche. Aus deutschen Großstädten wird berichtet, dass 250 bis 300 Kunden an einem Sonntag keine Seltenheit mehr sind. Rechnet man die unzähligen Telefonanrufe dazu, lässt sich leicht ermitteln, dass eine Person einen Apotheken-Notdienst gar nicht mehr stemmen kann. „Früher haben wir alleine Notdienst gemacht und sind dann manchmal aus dem Schlaf gerissen worden“, sagt ein Apotheker aus Berlin-Tiergarten. „Heutzutage sind wir zumeist zu zweit und kommen immer öfter gar nicht mehr dazu, uns nachts hinzulegen.“
Da stellt sich unweigerlich die Frage: Gibt es nachts so viele Notfälle? Berlin hat ja den Luxus, über eine Apotheke zu verfügen, die täglich 24 Stunden geöffnet hat. Sie befindet sich im Berliner Hauptbahnhof im 1. Obergeschoss am Ausgang Europaplatz. Reicht das Angebot der Bahnhofsapotheke mit ihrer großen Kundenkapazität nicht aus?
Bei der Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, einen Blick auf das Durchschnittsalter von Notdienstkunden zu werfen. In Rheinland-Pfalz wurden dazu im Rahmen eines Modellprojekts Apotheken von der Landesapothekenkammer befragt. Während in der Presseerklärung nach Auswertung der Projektergebnisse noch vorsichtig von „Verbesserungen in der Kommunikation zwischen den Partnern Patient, Arzt und Apotheker“ gesprochen wird, zeigen die nackten und unkommentierten Zahlen ein klares Bild: die überwiegende Mehrheit der Notdienstkunden ist zwischen 25 und 45 Jahren jung.
Beschäftigt man sich mit dem Konsumverhalten der jungen Generation, fällt rasch auf, dass diese es gewohnt ist, alles sofort und irgendwoher zu bekommen. Essen, Drinks, die Lust auf einen Film, eine Reise oder ein Telefonat in die USA – alle Bedürfnisse können heutzutage dank Internet und Lieferservices in Windeseile gestillt werden. Und wenn es 23 Uhr ist und der Verband um das Handgelenk soeben etwas nass geworden ist, dann geht man eben schnell in die Apotheke und besorgt sich einen neuen Verband. Die hat ja schließlich Dienst. Dass vor dem Dienst das Wörtchen „Not“ steht, interessiert im Zweifelsfall nicht.
Was die Apotheker in Rheinland-Pfalz bemängeln, ja beklagen, deckt sich mit den Erfahrungen in Berlin. Statt nach Medikamenten gegen hohes Fieber, Pseudokrupp, oder Allergien fragen die Kunden vor allem nach Nasenspray, Kondomen oder Pflastern. Dabei wird den manchmal genervt nachfragenden nächtlichen Dienstleistern, ob das denn nun tatsächlich ein Notfall sei, zunehmend Unverständnis und eine befremdliche Erwartungshaltung entgegengebracht.
Nun gehören eine wohnortnahe, unverzügliche und sichere Arzneimittelversorgung zu den wesentlichen Aufgaben der Apotheker. Aber das Anspruchsdenken vieler Kunden ärgert immer mehr Vertreter der Zunft. Wenn etwa Kunden in der Nacht anrufen und empört fragen „Liefern Sie denn nicht?“, dann lässt das auch erfahrene Pharmazeuten fassungslos zurück. Apotheken sind nun mal kein Pizzaservice.
Hohes unüberlegtes Anspruchsdenken an andere ist ein ernst zu nehmendes gesellschaftliches Problem. Zu glauben, jedem steht jederzeit alles zu, ist ein gefährlicher Irrtum. Auch die Notfallambulanzen der Krankenhäuser leiden darunter. Dort liegen die Annehmlichkeiten auf der Hand: keine lästige Terminvergabe, schnelle Diagnostik. Wer Notfalleinrichtungen wie Apotheken-Notdienste oder Ambulanzen überstrapaziert, trägt zu deren gesellschaftsschädigender Überlastung bei.
VH

Notdienstplan und Rezepteinwurf im Eingangsbereich einer Berliner Apotheke