Birkenblatt
Im Brennpunkt
Erinnerung und Schutz – warum der Geruchssinn so wichtig ist
Der Mensch hat fünf Sinnesorgane, die Reize aufnehmen und weiterleiten: Mund, Ohren, Nase, Augen und Haut. Dem entsprechen die fünf Sinne: Schmecken, Hören, Riechen, Sehen und Tasten. Wie ein Leben ohne zwei dieser Sinne ist, erleben seit zwei Jahren unzählige Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Den Geruchs- und den Geschmacksinn vorübergehend voll oder teilweise zu verlieren, gehört zu den häufigen Nebenwirkungen. Forschungen haben ergeben, dass bei einer Covid-19-Infektion rund 40 Prozent der Betroffenen der Geruchssinn früh abhandenkommt.
Wie gefährlich es sein kann, besonders den Geruchssinn nicht in vollem Umfang nutzen zu können, ahnen nur die wenigsten. Brand- und Gasgeruch, Faulgase und Schimmelgeruch können die Betroffenen nicht mehr warnen. Ob die Milch schon vergoren oder Fleisch und Fisch schon verdorben sind, kann nicht mehr in Erfahrung gebracht werden. Hinzu kommt, dass der Verlust des Riechens ein herber Verlust der Lebensqualität ist. Stellen Sie sich vor, Sie könnten den frisch gebrühten Kaffee, den warmen Apfelkuchen aus dem Ofen, das Kräuterbeet oder die Rosen im Garten oder auch das Parfum Ihres Lebenspartners nicht mehr riechen. Fürwahr eine schreckliche Vorstellung!
Geruchsverlust bringt aber auch die Ernährung durcheinander, denn wer nicht riecht, der schmeckt auch nicht richtig, vom Kochen und Abschmecken ganz zu schweigen. Manche Menschen verlieren deshalb den Appetit, essen dadurch weniger und nehmen ab. Wie viele unterschiedliche Gerüche der Mensch wahrnehmen kann, ist bis heute nicht geklärt. Bei Augen und Ohren hingegen lässt sich die Leistungsfähigkeit der Sinne weitaus einfacher bestimmen. Wissenschaftlich belegbar ist allerdings, dass der Geruchssinn der einzige Sinn ist, der einen direkten Zugang zum Zentrum der Erinnerung und der Emotionen im Gehirn hat. Der Geruchssinn ist außerdem der älteste Sinn, der schon im Mutterleib geprägt wird: „Riechen“, sagt der bedeutende Mediziner, Biologe und Geruchsforscher Hanns Hatt von der Universität Bochum, „hat sich in der Evolution vor dem Sehen und Hören entwickelt und war schon im Urmeer von elementarer Bedeutung.“
Als die ersten Lebewesen an Land gingen, darunter Krokodile und Eidechsen, konnten sie mithilfe des Geruchssinns wesentlich besser kommunizieren als durch das Sehen. Nahrung und Feinde konnten geruchstechnisch über eine weite Entfernung ausgemacht werden – und ebenfalls geeignete Sexualpartner. Deshalb war der Geruchssinn so wichtig bei den ersten Lebewesen an Land und bei allen, die sich aus ihnen entwickelten, so Hanns Hatt weiter. Seinen Höhepunkt hatte diese Entwicklung schließlich bei den Nagern: Mäuse und Ratten beispielsweise gehören zu den Lebewesen mit dem besten Geruchssinn.
Überhaupt wird sehr stark unterschätzt, wie stark der Geruchssinn unser soziales Verhalten mitbestimmt. Kein Wunder, sagen selbst Wissenschaftler wie Hatt, nehmen wir den Duft anderer Menschen oft nur unterbewusst wahr. Zwar wissen wir aus Erfahrung, dass Krankheiten Menschen anders riechen lassen, etwa beim Ausbrüten einer Infektion. Angst, Freude und andere Emotionen ändert nachgewiesenermaßen die chemische Zusammensetzung des eigenen Schweißes und der Körperdünste. Diese Moleküle werden dann über die Luft transportiert und gelangen so zur Nase einer anderen Person. Zwar bekommt diese Person nicht bewusst mit, dass da ein Angst- oder Freudegeruch in der Luft liegt. Trotzdem beeinflusst dieser Geruch ihr Verhalten auf unbewusster Ebene.
Neben der Schutzfunktion nimmt aber auch das Erinnern eine zentrale Rolle bei der Frage nach dem Sinn des Riechens ein. Es ist schon lange erwiesen, dass unser Erinnerungsvermögen sich stark auf den Geruchssinn stützt. Wissenschaftliches Forschen ist in der Tat mitunter sehr spannend. Man stelle sich vor: Unser Gehirn kann verschiedene Gerüche und Düfte mit längst vergangenen Ereignissen verbinden – selbst, wenn wir uns gar nicht mehr so richtig andiese Geschehnisse erinnern können. Wenn wir den entsprechenden Geruch aufnehmen, dann können wir uns in die Situation zurückversetzen, in der wir den Geruch zum ersten Mal wahrgenommen haben.
Warum das so ist, kann die Forschung noch nicht abschließend beurteilen. Eine Erklärung dafür lautet: Unser Geruchssinn ist bezüglich des Nervensystems grundlegend anders verschaltet als alle übrigen Sinne. Die wichtige Region für die Geruchswahrnehmung ist eng verknüpft mit Hirnarealen, die für die Verarbeitung emotionaler Reize zuständig sind, aber auch mit solchen, die Gedächtnisspuren speichern.
Der Spruch „Man muss sich riechen können“ hat im Übrigen einen tiefen Sinn. Zwar ist es uns in vielen Fällen nicht bewusst, aberob wir uns einen anderen Menschen als Partner:in vorstellen können, hängt auch von den Duftmolekülen ab, die der entsprechende Mensch ausstrahlt. Diese wiederum enthalten Informationen des Erbguts. Studien an Säugetieren und Mäusen zeigen, dass Tiere Partner bevorzugen, deren Erbgut sich sehr von dem eigenen unterscheidet. So stellen die Tiere instinktiv sicher, dass mögliche Nachkommen mit guten Genen ausgestattet sind, die beispielsweise für ein starkes Immunsystem sorgen. Anhand von Untersuchungen beim Menschen konnten Forscher auch zeigen, dass der Geruchssinn eher verhindert, dass wir enge Ver-wandte attraktiv finden. So lässt sich Inzest vermeiden, der wiederum Gendefekte bei Kindern fördert. Unser Geruchssinn kann sich aber auch aufgrund von persönlichen Abneigungen im Laufe der Zeit verändern. Beispielsweise gibt es Frauen, die das Rasierwasser eines Mannes, mit dem sie negative Erfahrungen verknüpfen (zum Beispiel ein Ex-Partner) abstoßend finden. Umgekehrt trifft das Frauen-Parfum genau so zu.
VH