Im Brennpunkt

Tanzen ist mehr als Ritual, Brauchtum und Therapie

 

„Solange man noch stehen kann, solange kann man auch tanzen.“ Dieses geflügelte Wort stammt von Rudolf Nurejew, dem wahrscheinlich bekanntesten und berühmtesten Ballett-Tänzer des 20. Jahrhunderts. Nun mag es für den äußerst diszipliniert arbeitenden und täglich bis zur Erschöpfung trainierenden Weltstar unvorstellbar gewesen sein, eines Tages NICHT mehr zu tanzen, doch prinzipiell mag er recht haben. Wer auf seinen zwei Füßen steht, kann zumindest ansatzweise sich zu einem Rhythmus bewegen, kann – wenn auch vielleicht nur symbolisch – Beine und Becken schwingen oder mit einem Fuß den Takt stampfen. – Es kommt eben auf die Begriffsbestimmung an, was denn Tanz überhaupt ist.

Nach der Definition des Internet-Lexikons wissen,de ist „Tanz ein Sammelbegriff für jede Art von rhythmischer Körperbewegung; eines der ursprünglichsten, naturtriebhaften Ausdrucksmittel des Menschen, um seelisch-geistige Vorgänge durch Bewegungen des Körpers, durch Gestik und Mimik zu versinnbildlichen. Der Tanz ist meist von Musik oder rhythmisch erzeugten Geräuschen begleitet. – Schon in der frühesten Menschheitsgeschichte ist der Tanz in vielfältigen Formen nachweisbar. Er findet sich noch bei zahlreichen traditionellen Völkern in seiner eigentlichen Bedeutung als magisch-religiöse Beschwörung sowie als Hingabe an Mythen und Naturgeschehen …“

Seit es Menschen gibt, haben sie ihre Körper zur Musik bewegt. Ermuntert durch Rhythmen, erzählten sie Geschichten oder drückten Gefühle aus. Sie schworen sich mit einstudierten Bewegungen auf Kämpfe ein, feierten damit ihre Gottheiten oder ließen sich von der eigenen Bewegung bis hin zur Trance berauschen. Alle uns bekannten Völker auf der Erde entwickelten Musik und Tanz. Das Phänomen scheint die Evolution überdauert zu haben und ist tiefer ins Menschsein eingegraben, als uns heute bewusst scheint.

Auf der Internet-Plattform Wikipedia sind unter „Liste von Tänzen“ knapp 300 verschiedene Tänze weltweit aufgeführt. Von A wie Attetur (ein norwegischer Paartanz) bis Z wie der südamerikanische Fitnesstanz Zumba sind allerdings nur die wichtigsten Tänze der Welt zusammengetragen – wobei es das Geheimnis von Wikipedia bleibt, was als „wichtig“ angesehen wird. Und tatsächlich sind alle Regionen unserer Erde vertreten ebenso wie diverse Tanzarten: Solotanz, Paartanz, Gruppentanz, Bühnentanz, Reihentanz, Kreistanz, Volkstanz, Reihe in Gürtelfassung usw.

Die ältesten erhaltenen Dokumentationen des Tanzens sind durch indische Höhlenmalereien belegt, die zwischen 5.000 und 2.000 v. Chr. entstanden. Dabei handelt es sich um eine Reihentanzformation und eine Darstellung des Gottes Shiva als den „König des Tanzes“. Im antiken Ägypten gab es rituelle Tänze, die Tod und Wiedergeburt des Gottes Osiris darstellten.

Diese sind technisch so anspruchsvoll, dass die Wissenschaft davon ausgeht, dass sie nur von professionellen Tänzern ausgeführt werden konnten. Eine vollkommen neue Form gab es später im antiken Griechenland. Dort wurden Tänze nach den verschiedenen Gottheiten entwickelt, und diese wurden mit den Göttern  zugeordneten Gefühlsausdrücken versehen.

Im europäischen Mittelalter müssen unterschiedliche Schwerpunkte beim Tanz hervorgehoben werden. Im religiösen Zusammenhang spielte der rituelle Charakter von Tänzen in Prozessionen und Gottesdiensten zur Gottespreisung eine herausragende Rolle. Der weltliche Tanz jedoch wurde von Kirchenkreisen scharf kritisiert. Besonders der erotisierende Solotanz einer Frau (wie wir es von der biblischen! Salome wissen), aber auch die derben Tänze jüngerer Leute galten als sündig und wurden entsprechend bekämpft. Dieses Phänomen kennen ältere Menschen übrigens auch noch aus eigener Erfahrung. Es ist keine 70 Jahre her, dass katholische und evangelische Kirche in seltener Einigkeit den Rock’n’Roll als unmoralisch, nicht mit der Kirche vereinbar und gar als „Teufelsmusik“ verunglimpfte.

Sucht man nach den Beweggründen, warum Menschen gerne tanzen, ja sich ihm gleichsam bis zur Ekstase hingeben, gibt es von Psychologen und Biologen ein Bündel von Erklärungen. Obwohl sich nicht jeder Mensch dazu berufen fühlt, ist und bleibt er ein Tänzer – für Fruchtbarkeit und gutes Wetter, für Jagd- und Kriegsglück, für ein langes Leben und aus reiner Lust an der Bewegung, aber auch als einer Euphorie heraus und als Frustabbau.

Sieht man die Angelegenheit wissenschaftlich-nüchtern, dann ist Tanz die Fähigkeit des Gehirns, einen Rhythmus zu erkennen und diesen dann in Bewegungen umzusetzen. Dazu reicht es aus, dass unterschiedliche Hirnregionen koordiniert werden können. Während des Hörvorgangs muss zunächst der Takt erkannt werden. Ist ein Rhythmus entdeckt und im Gehirn verarbeitet worden, melden sich die für Bewegung verantwortlichen Nervenzellen im Hirn und wollen den Körper zum Mitschwingen animieren. Schon länger wissen Forscher, dass selbst bei Neugeborenen  Rhythmus eine starke Resonanz auslösen. Mit etwa zehn Monaten – also noch vor dem Sprach- oder Singvermögen – fangen Kinder spontan an, zu Musik zu tanzen, haben Wissenschaftler der Berliner Charité festgestellt.

Sechs allgemeine Rhythmusmuster haben Forscher identifiziert, die Menschen kulturübergreifend begeistern. Dazu gehören der Zweidritteltakt, der Dreivierteltakt (Walzer), sowie Abfolgen betonter und weniger betonter Schläge. Menschen mögen es auch, wenn Rhythmen leicht erkennbare Motive enthalten, die sich häufig wiederholen. Tanzen hat in der Gesellschaft viele Funktionen, zu denen auch sportliche Betätigung und Therapie zählen, kann aber auch Selbstzweck oder Zeitvertreib sein. Das erfolgreiche Erlernen, Planen und Umsetzen komplexer Bewegungsabläufe bildet zudem Selbstvertrauen und unterstützt ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper.                                                          

 VH

 

Foto: ©Commons, Comet Photo AG

Rudolf Nurejew bei einem Auftritt in Zürich 1966