im Brennpunkt

Wenn es um die Frage geht, was ältere Menschen jüngeren voraus haben, dann fallen häufig Antworten wie: mehr Erfahrung, besseres Beurteilungsvermögen, einen größeren Sprachschatz oder auch Gelassenheit und Ruhe in kritischen Situationen. Zu den den durchaus zutreffenden Aufzählungen müsste aber noch ein ganz simpler Verweis erfolgen: ältere Menschen haben schlicht und ergreifend länger gelebt und deshalb mehr erlebt. Nicht wenige von ihnen verspüren irgendwann einmal den Wunsch, über ihr Leben detailliert Auskunft zu geben, über Abenteuer und Gefahren zu berichten, sich zu entscheidenden Augenblicken an Lebensgabelungen zu äußern und begangene Fehler zu bereuen. Dann geben sie sich einen Ruck und beginnen mit der Aufarbeitung.

Jahnke-Patientin Renate Rudolf*, die mit der Berichterstattung über ihre persönliche Art des Erinnerns erst den Stein zu diesem Artikel ins Rollen brachte, verfährt dabei auf folgende Weise. Eines Tages bekam sie eines dieser Bücher „Mama, erzähl mal!“ von Elma van Vliet in die Hand. Diese Bücher bestehen aus Fragen und sehr viel Platz zum Ausfüllen. Gestellt werden sie von Töchtern und Söhnen oder bei „Oma, erzähl mal!“ von den Enkeln. Diese wollen zum Beispiel wissen: Wie wurde früher dein Geburtstag gefeiert? Was sind deine Erinnerungen an deine Großeltern? Was wolltest du werden, als du klein warst? Wer war deine erste Liebe? Wie hast du Vater kennen gelernt? Welche fünf Dinge sind in deinem Leben am wichtigsten? Was würdest du in deinem Leben anders machen, wenn du noch mal die Chance dazu bekämst? Selbstverständlich gibt es diese Bücher auch für Väter und Großväter.

Renate Rudolf begann irgendwann damit, all diese Fragen und ähnliche zu beantworten. Was sie zunächst gar nicht erwartet hatte, trat dann ein: Sie begann Spaß an all diesem Erinnern und Stöbern im eigenen Gedächtnis zu finden. Und sie entsann sich, dass sowohl ihre eigene Mutter als auch ihr Onkel, der ein Schriftsteller war, Teile ihrer Lebenserinnerungen weitergegeben hatten, dass sie sich somit gewissermaßen in einer Familientradition befand.

So wie Renate Rudolf ergeht es vielen Menschen am Ende ihres Lebens. Politiker und Künstler schreiben Autobiografien und nennen sie Memoiren, Kriegsteilnehmer und -opfer betreiben aktive Erinnerungskultur in Schulklassen und in Erzählcafés, Großeltern und Urgroßeltern wollen in mahnenden oder in humorigen Tönen ihre Sicht der Dinge schildern, sei es als gesellschaftliche oder politische Ermutigung oder ganz einfach aus Lust am Formulieren. Denn jedes Leben ist es wert, erzählt zu werden. Gerade die kleinen Geschichten zeichnen das Bild eines Menschen genau. Manchmal will man sich alles noch einmal vor Augen führen, sucht vielleicht einen Sinn oder will abschließen. Manchmal will man den Kindern oder Enkeln zeigen, wie es war, in einer anderen Epoche zu leben. Genau so war das damals. So und unter diesen Umständen sind wir aufgewachsen.

Es gab keine Handys und keine Computer, nur Trümmer, Hunger und etwas Hoffnung.

In vielen stationären, aber auch in ambulanten Pflegeeinrichtungen kennen Pflegende das Bedürfnis alter Menschen, sich erinnern zu wollen und sich gleichsam der eigenen Erinnerungen zu vergewissern. Dieses Sich-vergewissern ist etwa an einem starken Erzähldrang zu spüren. Mitunter kann das in Situationen geschehen, in denen Pflegende kaum Zeit und somit kein Ohr haben, sich auf diesen Erinnerungsprozess einzulassen. Dennoch gibt es eventuell eine Möglichkeit, die alten Menschen im aktiven Erinnern zu bestärken. Man weiß seit vielen Jahren, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben in den späten Lebensjahren eine besonders wichtige Rolle spielt.

Deswegen kann das Pflegepersonal die entsprechend mitteilungsbedürftigen Patienten auch ruhig einmal fragen: Wollen Sie Ihre Erinnerungen denn nicht einmal zu Papier bringen? Es muss ja nicht in der Form sein, in der Frau Rudolf dies anfertigt. Eventuell erscheint es sogar sinnvoll, zunächst mit einem Erlebnis anzufangen und sich dann zum nächsten zu begeben. Die motorischen und geistigen Fähigkeiten der jeweiligen Patienten, die für das Schreiben notwendig sind, werden selbstverständlich vorausgesetzt.

Erinnerungen können größtenteils bewusst herbeigerufen werden, wenn man gezielt Anregungen und Räume schafft. Das kann ein Einzelgespräch sein, das mag während eines „begleitenden Schreibens“ geschehen, bei dem die Patienten Aufgaben gestellt bekommen oder auch in Schreibgruppen, in welchen mehrere Senioren regelmäßig zusammen kommen. Mit den richtigen Schreibanregungen können mitunter ungeahnte Fähigkeiten freigelegt werden. Ein Beispiel:

Gibt man einem 85-jährigen Patienten die Aufgabe, den Satz „Ich bin/war ein Mann, der …“ zehnmal aufzuschreiben und unterschiedlich zu ergänzen, dann wird man unter Umständen verblüffende und noch nie von ihm vernommene Aussagen erhalten. „… der viel zu hart gearbeitet hat.“ Oder „… der oft verliebt war.“ Oder „… der vieles in seinem Leben wieder genauso machen würde, wie es tatsächlich geschehen ist.“

Der amerikanische Gerontologe und Erinnerungsforscher Robert Neil Butler (1927-2010) fand heraus, dass wir alle im Erinnern unsere bisherige Lebensgeschichte zu einem vorläufigen Ganzen zusammen binden. Es ist wie eine therapeutische Reise, nach innen, bei der gerade ältere Menschen Bedeutung und Muster des eigenen Lebens entdecken. Und ganz nebenbei: schreibende Patienten sind zufriedenere Patienten, weil sie sich selbst beschäftigen und weil sie ihre eigene Geschichte selbst gestalten. Schreiben hilft dabei, das eigene Leben mit allen guten und schlechten Erfahrungen anzunehmen. Das ist doch ein lohnendes Ziel!

VH

*Name wurde von der Redaktion geändert

                                                             

Foto: Commons

Das Erzählbuch "Mama erzähl mal!" zum Ausfüllen