Jahnke aktuell

Deutsche Pflegekammern vor dem Aus? – Ein Hintergrundbericht

 

Es ist etwa sechs Jahre her, dass im „Birkenblatt“ der Pflegestation Jahnke ein Beitrag unter dem Titel „Kommt in Berlin jetzt die Pflegekammer?“ veröffentlicht wurde. Damals standen die Zeichen eindeutig auf Einrichtung einer eigenen Kammer für die Pflegenden in der deutschen Hauptstadt. Nach mehr als 15 Jahren teils erbittert geführter Diskussionen vor allem über Sinn und Zweck einer berufsständischen Vertretung in Anlehnung an die Kammern anderer Heilberufe wurde das Ergebnis einer Studie publiziert. Unter Federführung der Alice-Salomon-Hochschule waren 1.196 Berliner Pflegefachkräfte zur Implementierung einer Pflegekammer gefragt worden.

Demnach hatte eine satte Mehrheit von 58,8 Prozent für eine Pflegekammer gestimmt, 24,1 Prozent war es egal oder machten keine Angaben und nur 17,1 Prozent waren strikt dagegen. Bei der Abschlussveranstaltung im Großen Saal des Roten Rathaus sagte nach Bekanntgabe der Zahlen der damalige Gesundheitssenator Mario Czaja, er nehme dieses klare Votum als eindeutigen Auftrag, um die weiteren Schritte zur Gründung einer Pflegekammer zu gehen. Dabei versprach er die Erfahrungen aus den Bundesländern zu nutzen, in denen bereits Pflegekammern gegründet worden waren, zu diesem Zeitpunkt im Sommer 2015 waren das Rhein-land-Pfalz und Schleswig-Holstein. Czaja konnte sich der Unterstützung des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe sicher sein und weiterer großer Interessenverbände der Pflege wie des Deutschen Pflegerats. Eine Berliner Pflegekammer schien also nur eine Frage der Zeit zu sein, auch in vielen weiteren Bundesländern deutete alles in genau diese Richtung.

Und heute, sechs Jahre später? Da ist mit einem gewissen Erstaunen zu konstatieren, dass von der einstigen Aufbruchstimmung und der Euphorie so gut wie gar nichts übriggeblieben ist. Eine Berliner Pflegekammer gibt es immer noch nicht, man diskutiert weder in der fachlichen noch in der medialen Öffentlichkeit über das Thema und die Pflegenden haben andere Sorgen, als für eine Pflegekammer zu streiten. Woran liegt das, was ist seit dem Sommer 2015 geschehen?

Zunächst wurde im Nachgang die Methodik der Umfrage kritisiert. Nicht repräsentativ sei sie gewesen, lautete ein Vorwurf, es wären zu viele Pflegebetriebe involviert gewesen, die den Pflege-Interessenverbänden nahe stünden. Im Übrigen eine Beschuldigung, die auch in anderen Bundesländern erhoben wurden, in denen es solche Umfragen gegeben hatte. Stattdessen hätten Urabstimmungen aller Pflegenden organisiert werden sollen, um somit ein eindeutiges Stimmungsbild wiederzugeben. Noch schwerer ins Gewicht war allerdings gefallen, dass in den drei Bundesländern, in denen Pflegekammern gegründet worden beziehungsweise schon arbeitsfähig waren (inzwischen war in Niedersachsen die dritte Kammer hinzugekommen), vieles im argen lag. Die Errichtung der Pflegekammern und mit ihr die Einführung der Zwangsmitgliedschaft wurde sehr schnell von vielen als kritisch gesehen. Eine besonders kritische Gruppe Pflegender reichte in Rheinland-Pfalz sogar Verfassungsbeschwerde ein, die sich auf die Kosten für die Kammer und die Zwangsmitgliedschaft sowie die Umstände der durchgeführten Urabstimmung bezog. Zwar wurde diese Klage abgewiesen, doch der Widerstand gegen die Landespflegekammern legte seitdem an Hartnäckigkeit zu.

Zu den größten Gegnern der Pflegekammern zählen vielerorts zwei vollkommen gegensätzliche Institutionen: die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften. So hatte der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) schon kurz nach Bekanntwerden der Berliner Studie von 2015 generell davor gewarnt, dass „durch Zwangskammern und Pflichtbeiträge die eigentlichen Probleme der Pflege nicht gelöst“ würden. Eine Einführung „bringe nur neue Vorschriften und werde weder zu einer Steigerung der Vergütung noch zu zusätzlichen Pflegekräften“ führen.

In seltener Einmütigkeit stieß die Gewerkschaft ver.di ins gleiche Horn: Stellvertreterpolitik durch eine Pflegekammer wird das Selbstbewusstsein des Berufsstandes kaum stärken, hieß es auf der ver.di-Website. Zwangsmitgliedschaft, Zwangsbeiträge sowie die damit verbundenen Kontrollstrukturen wurden schlicht abgelehnt, ebenso der immer wieder beispielhaft ins Spiel gebrachte Vergleich mit dem Erfolg der Ärztekammern: „Die Ärztekammer wird nicht wegen der Kammerstruktur in der Öffentlichkeit wahrgenommen, sondern weil Ärzt*innen in unserer Gesellschaft ein hohes Ansehen haben“, hieß es deshalb auf der Website. Zahlreiche gut besuchte Protestveranstaltungen in den Bundesländern gegen die dort bestehenden Pflegekammern sorgten zudem für Nachdenklichkeit bei den politisch Verantwortlichen.

Bei so viel Widerstand bundesweit kam, was kommen musste: Zunächst beschloss Ende April 2021 der Landtag von Niedersachsen, Ende Mai 2021 der Landtag von Schleswig-Holstein die Auflösung der jeweiligen Pflegekammer. Diese Entwicklung brachte Wasser auf die Mühlen auch der Berliner Pflegekammer-Gegner. Innerhalb des rot-rot-grünen Senats konnte ohnehin keine Einigkeit erzielen. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci hatte schon früh ihre Abneigung gegen diese Form einer berufsständischen Vertretung kundgetan. – Im Herbst sind auch in Berlin Neuwahlen. Je nach Wahlausgang kann danach das endgültige Aus auch der hiesigen Pflegekammer besiegelt werden.          

VH

                                                                        

 

Ablehnung statt Zustimmung - Protest gegen die Pflegekammer in Niedersachsen