Nachgefragt

Interview mit Bettina Jarasch, Grünen-Spitzenkandidatin

für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus

 

Frau Jarasch, im Bund legen die Grünen nach der Nominierung von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin gewaltig zu, in Berlin liegt Ihre Partei mit Ihnen als Spitzenkandidatin Umfragen zufolge deutlich in Führung. Die Stimmung ist gut, die Aussicht ebenso. Können sich die Grünen im Augenblick nur selbst schlagen?

Ein bisschen Demut vor den Wählerinnen und Wählern kann an der Stelle nicht schaden, zumal Umfragen, Umfragen sind. Richtig ist aber, dass es offenbar eine große Sehnsucht nach Veränderung gibt und nach einem ehrlichen Neuanfang. Das gilt im Bund wie in Berlin, wo ich Regierende Bürgermeisterin werden will. Offenbar honorieren die Menschen unseren Politikstil, und wir sprechen natürlich die relevanten Fragen der Zukunft an. Sei es Klimawandel, Wirtschaft oder Verkehrswende.

Bündnis 90/Die Grünen sind zurzeit (noch) die kleinste Partei der Regierungskoalition des Landes Berlin. Gesetzt den Fall, Sie werden nach dieser Wahl Regierende Bürgermeisterin von Berlin: wie werden sich die Schwerpunkte gemäß ihrer politischen Ziele verlagern? Was steht für Sie im Vordergrund?

Rot-rot-grün hat schon ein paar wichtige Dinge angestoßen. Tausende neue S-Bahnwagen und Busse, demnächst viele neue Tram-Strecken, das weltweit erste Gesetz zum Schutz von Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, sowie ein Umsteuern beim öffentlichen Dienst, wo viele neue Stellen etwa bei der Justiz, Feuerwehr und Polizei geschaffen wurden. Bei den großen Zukunftsfragen merke ich aber schon, dass es wichtig ist, dass die Grünen die Regierung anführen. Wir wollen die Stadt stärker den Menschen zurückgeben. Mehr Verkehrssicherheit, mehr Grünflächen, bezahlbares Wohnen und natürlich die klimaneutrale Stadt. Schließlich kommen nach uns noch weitere Generationen. Das hat letztens das Bundesverfassungsgericht nochmal sehr deutlich gemacht.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Berliner Mietendeckel im April gekippt. Was kann die Politik nun leisten, damit die Berliner Wohnungsmieten nicht ins Uferlose steigen und der leerstehende Wohnraum landeseigener Immobilien eingedämmt wird?

Einmal hat rot-rot-grün auf Druck der Grünen insofern vorgesorgt, als dass absehbar ein qualifizierter Mietspiegel greifen soll, der zu mindestens unkontrollierte Steigerungen verhindert. Darüber hinaus müssen wir aber alles tun, um in der ganzen Stadt für faire Mieten zu sorgen. Bauen, Bauen, Bauen alleine wird da nicht helfen. Das braucht es auch, aber die soziale Frage müssen wir im Bestand lösen, um Mieterinnen und Mieter zu schützen.

Einerseits haben wir in das Grüne Wahlprogramm deswegen eine Öffnungsklausel für Kommunen reinverhandelt. Das würde uns einen rechtssicheren Mietendeckel ermöglichen. Andererseits müssen wir alle Instrumente, die die grünen Stadträte schon erfolgreich nutzen, verstärken. Abwendungsvereinbarungen, Vorkaufrechte, Milieuschutzgebiete und einiges mehr. Wir wollen erreichen, dass 50 Prozent aller Wohnungen gemeinwohlorientiert werden.

Als Berliner Pflegeeinrichtung sind wir natürlich besonders an Ihren Vorschlägen für das Gesundheitswesen interessiert. Wie positionieren Sie sich zu diesem Ressort?

Corona hat uns sehr deutlich gezeigt, wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitssystem ist. Pflege beispielsweise, egal ob im Heim oder im Krankenhaus, ist systemrelevant. Das ist jetzt wirklich sehr deutlich geworden. Wir dürfen hier deshalb nicht zu sehr nach Effizienzkriterien agieren. Gesundheit ist halt keine Ware. Deswegen brauchen wir mehr Reserven im System. Aber das wird natürlich den Staat auch mehr kosten. Hier wird es sich hoffentlich auch auszahlen, wenn die Grünen auch auf Bundesebene stark werden. Denn für viele wichtige Fragen braucht Berlin in diesem Bereich das Gesundheitsministerium.

Als geborene Augsburgerin wohnen Sie seit vielen Jahren in Berlin und kennen die Stadt bereits seit Ihrem Studium an der Freien Universität. Entwerfen Sie doch bitte in wenigen Sätzen eine Vision: wie wird sich Berlin im Jahr 2050 seinen Bewohner*innen präsentieren?

Klimaneutral, mit schattigem Grün auch in der Innenstadt. Seniorinnen und Senioren können sich ebenso wie Kinder sicher durch ihre weitgehend autofreien Kieze bewegen. Wer noch auf ein Auto angewiesen ist, kommt gut durch, weil die meisten Menschen den schnellen ÖPNV mit dem dichten Takt auch am Stadtrand nutzen. Und Berlin ist eine sichere Stadt, weil wir keine Angsträume haben, Polizisten im Stadtbild aber auch Mitarbeitende in Bahnhöfen. Sicher aber auch, weil es eine gute Gesundheitsversorgung für alle gibt, Arbeit und keine Angst vor Wohnungsverlust. Denn bis dahin sind 50 Prozent aller Wohnungen gemeinwohlorientiert.

Das Interview führte Volker Hütte

Foto: Dominik Butzmann

Bettina Jarasch, geboren am 22. November 1968 in Augsburg, studierte Philosophie und Politologie an der Freien Universität Berlin. Als ausgebildete Redakteurin und selbständige Beraterin startete sie ihre politische Karriere als Referentin in der Grünen Bundestagsfraktion (2000 – 2009). Danach war Bettina Jarasch zwei Jahre lang Mitglied im Landesvorstand und Sprecherin der LAG Bildung, ehe sie von 2011 bis 2016 Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Berlin wurde. Als zwischenzeitliches Mitglied des Bundesvorstands ihrer Partei (2013 bis 2018) ist sie seit Oktober 2016 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, Sprecherin für Integration und Flucht sowie Sprecherin für Religionspolitik. Bettina Jarasch ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Als Vorsitzende des Pfarrgemeinderats von St. Marien in Kreuzberg ist sie auch Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.