Birkenblatt
Nachgefragt
Interview mit Gunter Demnig, Initiator des Projekts STOLPERSTEINE
Herr Demnig, viele Menschen in Deutschland kennen und schätzen Ihr Kunstprojekt STOLPERSTEINE. Können Sie denjenigen unserer Leserinnen und Leser, die sich noch nicht damit beschäftigt haben, erklären, was diese Steine sind welche Idee sich dahinter verbirgt?
Ich habe 1991 eine Farbspur in Köln verlegt, um an die Deportationswege der Sinti und Roma zu erinnern. Als ich wenige Jahre später die Spur durch Messingschriftzüge ersetzte, sprach mich eine ältere Frau an, die mein Projekt zwar würdigte aber bezweifelte, dass „Zigeuner“ in ihrer Nachbarschaft gelebt hätten. Da wurde mir bewusst, dass viele Geschichten gar nicht mehr im Bewusstsein der heutigen Bevölkerung vorhanden sind. Ich wollte deshalb ein Projekt beginnen, dass zum einen das Gedenken in die Städte und Straßen holt und zum anderen die Orte markiert, an denen die Opfer lebten und die Verbrechen einst begannen. Zunächst waren die STOLPERSTEINE eine rein konzeptuelle Idee und erst nachdem die ersten Steine auf Zuspruch von Angehörigen der Opfer stießen, dachte ich daran das Projekt auszuweiten und weiterzumachen.
Mit diesem Projekt soll aller verfolgten oder ermordeten Opfer des Nationalsozialismus gedacht werden: Juden; Sinti und Roma; politisch Verfolgten; religiös Verfolgten; Zeugen Jehovas; Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung; Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hausarbeit verfolgt wurden; als „asozial“ stigmatisierte und verfolgte Menschen, wie Obdachlose oder Prostituierte; Zwangsarbeiter und Deserteure; – letztlich aller Menschen, die unter diesem Regime leiden mussten.
Die Voraussetzung für die Verlegung von STOLPERSTEINEN ist, dass im Gedenken die Familien wieder „zusammengeführt" werden. Daher werden auch überlebende Familienangehörige an der entsprechenden Adresse einbezogen und erhalten einen STOLPERSTEIN.
Wie viele Ihrer STOLPERSTEINE wurden bundesweit bereits verlegt, und gibt es diese Steine auch in anderen Ländern?
In Deutschland liegen ca. 70.000 STOLPERSTEINE. Die restlichen 10.000 liegen in weiteren 25 Ländern: Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Luxemburg, Litauen, den Niederlanden, Norwegen, Polen, Republik Moldau, Österreich, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Ukraine und Ungarn. Zudem gibt es eine STOLPERSCHWELLE in Argentinien. (Stand: Juli 2020)
Es ist ganz unterschiedlich von wem die Anfragen kommen. Meistens sind die Antragsteller jedoch Menschen aus Heimat- und Geschichtsvereinen, Lehrkräfte und ihre Schüler*innen, Hausbewohner bzw. Hauseigentümer, extra für diesen Zweck gegründete Initiativen oder auch immer häufiger Angehörige.
Die Gedenksteine enthalten persönliche Daten der Opfer. Woher wissen Sie, dass die eingravierten Daten in den STOLPERSTEINEN korrekt und historisch belegbar sind?
Ich verlasse mich weitgehend auf die Recherchen der Organisator*innen vor Ort. Um aber ganz sicher zu gehen, macht Karin Richert, die die Inschriften zusammen mit den Initiativen abspricht, immer selbst nochmal eine kurze Recherche, bevor ich sie auf den Schreibtisch bekomme. Natürlich können wir dann immer nur den aktuellen Stand der Forschung widergeben.
Was geht in Ihnen vor, wenn einige Fehlgeleitete STOLPERSTEINE schänden oder zerstören?
Am Schlimmsten ist dies nicht für uns von Seiten der STIFTUNG – SPUREN – Gunter Demnig, sondern für die Angehörigen. Wenn so etwas passiert, dann ist das jedes Mal wieder ein weiterer Angriff auf ihre ohnehin schon tragische Geschichte. Zum Glück sind die Organisatoren vor Ort bislang immer sehr aufmerksam und aktiv gewesen. Sie reinigen beschmierte Steine oft noch am selben Tag. Da helfen wie in Berlin auch schon mal Polizisten mit.
Wenn Steine gestohlen werden, dann versucht mein Künstlerkollege Michael Friedrichs-Friedlaender, der seit nunmehr 10 Jahren die STOLPERSTEINE für mich macht, die Steine so schnell wie möglich wiederherzustellen.
Bei vielen Verlegungen sind Sie auch nach mehr als 20 Jahren Projektzeit persönlich anwesend. Was treibt Sie an, trotz der nicht unerheblichen Reisestrapazen diesen einen Moment zu erleben, in dem der Stein eingelassen wird?
Die Verlegung der Steine kann ich inzwischen im Schlaf. Die Begegnung mit den Angehörigen und den Organisatoren ist hingegen immer wieder etwas ganz Neues und Besonderes, ebenso die Schicksale, die hinter den Opfern stecken. Wir, meine Frau Katja und ich, freuen uns über jeden neuen Stein, den wir verlegen können. Da wir so viele Anfragen haben, auch von Schülerinnen und Schülern, ist inzwischen auch meine Frau unterwegs und verlegt im In- und Ausland STOLPERSTEINE. Mit jedem neuen Stein wird das Opfer dem Vergessen entrissen und die Familie hat einen Platz zum Gedenken und Trauern bekommen. Das ist für uns die größte Motivation.
Das Interview führte Volker Hütte