Soziales Engagement

Demenz-Erkrankte und ihre frohen Stunden auf dem Bauernhof

 

Mit dem Beginn des Erlebnistourismus in den  1970er und 1980er Jahren etablierte sich eine Nische mit Urlaubs- und Freizeitangeboten im dörflich-ländlichen Umfeld. „Ferien auf dem Bauernhof“, prangte es in dicken Lettern auf Plakaten, Broschüren und Katalogen. Vor allem die städtischen Familien nahmen hierzulande das neue Angebot dankbar an. Nicht nur die Kinderaugen begannen zu leuchten, wenn der Familienrat den Beschluss gefasst hatte: zwei Wochen Allgäu auf dem Hof des jung-dynamischen Bauern Huber. Auch manch Erwachsener spürte eine gewisse Vorfreude bei der Vorstellung, beim Melken der Kühe, Misten des Schweinestalls oder Versteckspielen im Heuschober dabei zu sein.

Jahrzehnte später ist die damalige Elterngeneration  im betagten Alter angekommen. Sie hat neue Erfahrungen sammeln müssen, den Umgang mit Gebrechlichkeit zum Beispiel oder das Leben mit Vergesslichkeit – im schlimmen Fall das Leben mit Demenz. Und plötzlich lockt wieder der Bauernhof. Diesmal aber nicht als Feriendomizil, sondern als Betreuungsangebot. Tagesbetreuung und Wohnprojekte für alte und häufig demente Meschen werden intensiv beworben. Die Nachfrage wächst und mit ihr glücklicherweise auch das Angebot.

Im Jahr 2015 entwickelte die Landwirtschaftskammer von Schleswig-Holstein gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum Demenz, einem Projekt der Alzheimer Gesellschaft Schleswig-Holstein, ein zukunftsträchtiges Konzept im Bereich Demenzbetreuung. Grundidee war die Überlegung, dass Bauernhöfe wie wenige andere Orte für Naturverbundenheit, Zusammenleben mit Tieren und Erlebnisse mit allen Sinnen stehen. Besonders für Menschen mit Beeinträchtigungen wie Demenz oder geistige oder körperliche Behinderung kann der Besuch eines Bauernhofs ein höchst inspirierendes und animierendes Abenteuer sein. Wie wäre es denn, fragten sich die Projektverantwortlichen, wenn wir dieser Zielgruppe einen mehrstündigen Aufenthalt in Begleitung anbieten könnten? 

Wege zur Realisierung und zur Finanzierung nach geltendem Recht wurden gesucht – und gefunden. Das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen: Ein Bauernhofbesuch kann nach Antragstellung für alle Pflegeversicherten ab Pflegegrad 1 von den Pflegekassen im Rahmen der niedrigschwelligen Betreuungsangebote übernommen werden. Grundvoraussetzungen zu dieser Finanzierung des Angebots ist die Wahl eines Hofes, der die Anerkennung nach der Alltagsförderungsverordnung hat. Die Höfe erfahren hierbei Beratung und Unterstützung von der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein.

Für die pflegebedürftigen Besucher aus stationären Einrichtungen übernimmt die Pflegekasse im Rahmen der Leistungsbeträge auch die pflegebedingten Aufwendungen einschließlich Betreuungsaufwendungen. Bei Besuchern aus Pflegeheimen ist in der Regel außerdem Pflegepersonal mit vor Ort. Die Kosten für Verpflegung und eventuell auch Unterkunft müssen allerdings von den Pflegegästen selbst getragen werden. 

Federführend im Projekt sind bei der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein Heidi Schiller für die Bauernhof-Pädagogik und Maria Nielsen, die Ansprechpartnerin für das Betreuungsprogramm „Green Care“. Die Krankenschwester und Agraringenieurin fungiert hierbei als Fachberaterin. Sie vernetzt die Landwirtschaft mit dem Gesundheitswesen und berät interessierte Höfe. „Ziel des Projektes ist es, Bäuerinnen und Bauern darin zu unterstützen, soziale Angebote auf ihren Höfen anzubieten. Dazu muss der interessierte Personenkreis vorab jedoch obligatorisch eine 30-Stunden-Schulung zum Thema Demenz absolvieren.“ Ohne grundlegende Informationen zu den unterschiedlichen Krankheitsbildern und Erscheinungen demenzieller Erkrankungen und ohne entsprechendes Hintergrundwissen  könne eine verantwortungsbewusste Vermittlung nicht stattfinden.

Insgesamt 16 Höfe nehmen nach Auskunft von Maria Nielsen bislang in Schleswig-Holstein an diesem Projekt teil, das für alle Betriebe willkommene Mehreinnahmen bedeutet. Auch in anderen Bundesländern scheint die Idee von der Betreuung auf dem Bauernhof angekommen zu sein, denn mittlerweile gibt es auch Nachahmer in Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg und Brandenburg.

Für die vielen alten und (demenz)kranken, Besucherinnen und Besucher sowie für etliche Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung bietet die Erlebniswelt Bauernhof eine Menge an Stimulanz. Sie alle haben die Möglichkeit, das Hofleben zu erkunden, zu entdecken und Teil davon zu werden. Naturerlebnisse mit allen Sinnen, der Geruch von frischgemähtem Gras, der Geschmack des Apfels von der Streuobstwiese oder das Küken in der Hand sind Balsam für die Seele und tragen so zum Wohlbefinden bei.

Maria Nielsen, die gelegentlich bei den Besuchen der demenziell erkrankten Menschen auf den Bauernhöfen mit von Partie ist, kann sich an bewegende Augenblicke erinnern. Zum einen, sagt sie, gebe es viele, die in ihrer Kindheit intensiven Kontakt mit der Landwirtschaft hatten und bei denen ein Bauernhofbesuch gewaltige Emotionen hervorrufen kann. Eine Katze auf dem Schoß, das Streicheln eines Meerschweinchens oder der pure Anblick eines gackernden Huhns lassen bei vielen Erinnerungen an die Kindheit wach werden.

„Mir fällt gerade der Besuch eines Hofes bei Husum ein“, erzählt die Projektverantwortliche, „bei dem es nach dem Hofrundgang mit den Besucher*innen und anschließendem Kaffee & Kuchen eine Ankündigung der Bäuerin gab, dass sie nun eine Überraschung für ihre Gäste habe.“ Dann habe die Bäuerin, so Maria Nielsen, eine Kiste auf einen Tisch gestellt und diese geöffnet. Aus ihr heraus purzelten mehrere Küken, bei deren Anblick die Besucher die unterschiedlichsten Reaktionen gezeigt hätten, von Entzücken über Erstaunen bis hin Ausrufen wie: „So ein Schweinkram!“

Emotionen eben. Emotionen, die im grauen Alltag in der Qualität kaum noch geweckt werden.

VH

Foto: Nadine Axelsen-Dentz

Besuche auf dem Bauernhof wecken Emotionen