Soziales Engagement

Bürgerwissenschaften – Wenn Laien zu Forschern und Experten werden

 

Vor rund 120 Jahren begann in den Vereinigten Staaten von Amerika ein Projekt, das heute als Mutter aller Bürgerwissenschaften bezeichnet wird. Zu Weihnachten des Jahres 1900 rief eine große nationale Vogelschutz-Organisation Freiwillige dazu auf, an einem bestimmten Tag in einer vorher exakt bestimmten Region Vögel zu zählen. Das Ergebnis dieser Zählung sollte dann nach Vogelarten unterteilt an den Veranstalter mitgeteilt werden.  Insgesamt 27 Personen beteiligten sich damals in mehreren US-Staaten an dieser ungewöhnlichen Idee. Zu 90 Vogelarten wurden Zählungen übermittelt.

Seitdem werden in den USA in jedem Jahr immer zur Weihnachtszeit solche Zählungen durchgeführt. Die Zahl der freiwilligen Helfer ist inzwischen auf etwa 30.000 Personen angewachsen. Als Citizen Scientists (zu Deutsch: Bürgerwissenschaftler) leisten sie eine unschätzbar wertvolle Arbeit für die Wissenschaft. Ohne ihre rein ehrenamtliche Tätigkeit könnte der Bestand vieler Vogelarten nicht oder nur unzureichend erfasst werden. Der Artenschutz wäre einer zentralen Grundlage beraubt.

Bürgerwissenschaftler oder Bürgerforscher sind besonders in den Naturwissenschaften – aber nicht nur dort – wichtige und gerne gesehene Unterstützer der professionellen Wissenschaftler. Tausende von begeisterten Menschen sammeln, messen, kartieren, fotografieren und dokumentieren alles Mögliche. Sie Sammeln Insekten und geben sie in botanischen Instituten ab, sie beobachten die Sterne am Himmel und teilen ihre Erkenntnisse der nächsten Sternenwarte mit. Sie beschreiben auch Kunstwerke und helfen auf diese Weise Kunsthistorikern bei der Erfassung von Schlagworten und zentralen Daten zu Dokumenten und Bildern. Vor allem aber: sie sind hochmotiviert, bringen sich gerne ein, kennen sich zum Teil so gut aus, dass ihr Wissen gelegentlich sogar Experten verblüfft und ihre Wissbegierde treibt sie immer wieder an.

Bürgerwissenschaften können von freiwilligen Einzelpersonen, von Gruppen oder von ganzen Netzwerken durchgeführt werden. Grundbedingung für ihr Wirken ist immer, dass sie mit Berufswissenschaftlern zusammenarbeiten, um gemeinsame, vorher definierte Ziele zu erreichen. Besonders die Unterstützung durch große Freiwilligennetzwerke ermöglicht es Wissenschaftlern Aufgaben zu erledigen, die sie ansonsten nur mit extrem längerem Zeitaufwand und mit bedeutend höheren finanziellen Mitteln hätten bewerkstelligen können.

Bemerkenswert in dem Zusammenhang sind aktuelle Umfragen aus Deutschland und der Schweiz, die belegen, dass das Interesse an bürgerwissenschaftlichem Engagement wächst. Rund 30 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie sich eine Teilnahme an einem Forschungsprojekt vorstellen können.

Dabei spielen geschlechts- und bildungsbedingte Unterschiede keine Rolle. Auch sind prinzipiell junge und alte Menschen an daran interessiert, doch während die ältere Generation hauptsächlich in Zoos, Botanischen Gärten oder Museen Anregungen erhält, geschieht  dies bei den Jüngeren eher beim Besuch von Internet-Plattformen wie YouTube.

Ein wahrer Hort für Bürgerwissenschaften ist das Berliner Museum für Naturkunde. In Kooperation mit der gemeinnützigen Organisation Wissenschaft im Dialog hat das Museum die Internet-Plattform Bürger schaffen Wissen gegründet, die Wissenschaftler und Hobbyforscher verbindet. Konkret funktioniert das so: Wissenschaftler stellen ihre Projekte mithilfe dieser Plattform online vor, sie berichten über ihre eigene Forschung und beschreiben, wie Bürgerwissenschaftler*innen diese Forschung aktiv unterstützen können. Die Hobbyforscher wiederum gelangen per Suchfunktion zu den spannenden Projekten und können wählen, für welches sie sich engagieren möchten.

Mehr als 100.000 Freiwillige haben sich im letzten Jahr für die Teilnahme an einem der rund 180 Projekte auf dieser Plattform entschieden – ein unglaublicher Erfolg für die Macher von Bürger schaffen Wissen, das seit Gründung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird.

Der Generaldirektor des Museum für Natur-kunde Berlin, Johannes Vogel,  stellt die Be-deutung für die Wissenschaft heraus: „Nicht nur für Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für Wissenschaftler bietet diese Plattform einen großen Mehrwert. Die Einrichtung und gelungene Durchführung eigener Ideen und bürgerwissenschaftlicher Projekte wird unterstützt. Und über Kampagnen erfahren die Menschen, wo und wie sie sich in die Forschung einbringen können. Langfristig hat Bürger schaffen Wissen das Potential, die gesamte Forschungslandschaft zu modernisieren.“

Abschließend möchten wir einige Beispiele für  herausragende Projekte nennen. Da wäre etwa die Ahnenforschung, die durch eigene Online-Recherche unterstützt werden kann oder die Archäologie, die hautnah beim Graben an einer alten Kultstätte im Spessart zum Abenteuer wird. Interessant ist sicherlich auch die Trinkwasserforschung, bei der wissenschaftliche Untersuchungen von Wasser aus dem Hahn mit Wasser aus verkauften Flaschen vor-genommen und verglichen werden. Beliebt ist ebenso die Unterstützung der sogenannten Stadtfarmer, Ernährungswissenschaftler, die eine Nahrungsproduktion durch städtische Landwirtschaft ausprobieren. Den bürgerwissenschaftlichen Bereichen sind kaum Grenzen gesetzt!                                                       

VH

Foto: Frank Liebig

Vogelzählen - hier eine Kranichformation - gehört zu den beliebten Bürgerwissenschaften

Foto: BMBF - Laurence Chaperon

Ex-Bundesbildungsministerin Anja Karliczek unterstützt "Bürger schaffen Wissen"