Soziales Engagement

Die internationale Straßenzeitung „Arts of the Working Class“

 

Neulich in der U-Bahn. Eine junge Frau stellt sich mit ihrem Vornamen Nicole vor. In ihrer Umhängetasche trägt sie einen Packen von Zeitungen. Kaum fährt die Bahn an,  hält sie einen knappen, einstudierten Vortrag über den Verkauf eines Straßenmagazins. Die Reaktionen der Mitfahrenden sind die üblichen: totale Missachtung, ab und zu ein genervter Blick, wenige scheinen zuzuhören. Doch etwas ist anders als sonst. Am Ende ihres Vortrages sagt die junge Frau noch zwei entscheidende Sätze: „Ich nehme keine Drogen. Und ich selbst habe einen Beitrag für diese Ausgabe geschrieben.“

Das reicht vollkommen aus, die Neugier des Journalisten ist geweckt. Schlappe 2,50 Euro kostet die Zeitung, die erstaunliche 72 Seiten aufweisen kann. Ihr Titel – Arts of the Working Class – sagt mir nichts. Dann beginne ich zu blättern. Ganz am Ende finde ich den Artikel von Nicole. Ihr Beitrag ist eine Art Erlebnisbericht, der ihre Erfahrungen beim Straßenverkauf in den Vordergrund stellt. Nicole gewährt interessante Einblicke in ihr Arbeitsleben, wenn sie z. B. schreibt: „Mir fällt selbst auf, wenn ich schlecht drauf bin, verdiene ich wesentlich weniger, als wenn ich gute Laune habe. Das merken die Menschen. Es ist total faszinierend, was ein Lächeln ausmacht.“

Nicole war Krankenschwester. „Ich habe jahrelang erst im OP und dann auf der Intensivstation gearbeitet. Letztes Jahr fiel ich in einen Burnout. Man bekommt als Krankgeschriebene natürlich nicht mehr das Gehalt, das man vorher hatte – mit Überstunden und vielem mehr. Also habe ich überlegt, was mache ich? Mein Kind sollte auf keinen Fall darunter leiden … Da ich recht nah an der Abholstation der Zeitung wohne und oft an ihr vorbeikam, dachte ich: vielleicht sollte ich das machen.“

Etliche Beiträge des Straßenmagazins waren in anderen Sprachen verfasst. Neben englischsprachigen Artikeln waren auch italienisch, spanisch, arabisch und ukrainisch vertreten. Kurios, dachte ich, was für ein Magazin ist das überhaupt? Die Antwort darauf fand ich wenige Mausklicks später bei Google.

Arts of the Working Class – Künste der Arbeiterklasse – soll gemäß dem Titel eine Zeitschrift sein, die Kunst und Kunstformen finanziell schwacher und lobbyloser Menschen vorstellt. Vertrieben wird das Magazin in verschiedenen Ländern und Kontinenten in Buchhandlungen oder Zeitschriftenläden oder von Menschen auf der Straße. Dort kostet das Heft 2,50 Euro, die direkt an die Verkäufer:innen gehen, jedoch 3,50 Euro im Handel. Mit dem Preisunterschied wollen die Heraus-geber signalisieren, dass es sich lohnt, das Heft auf der Straße oder in der U-Bahn zu kaufen. Die meisten Hefte wurden im Jahr 2019 in Berlin und London ausgegeben.

Das Magazin soll die Probleme der Gesellschaft und nicht zuletzt des Kunstbetriebs behandeln. Die Themen kreisen dabei um Kunst und Gesellschaft, um Reichtum und Armut. Das anfangs im Selbstverlag, seit 2018 bei der Reflector Mondein Berlin erscheinende Blatt wird vom Bundesverband bildender Künstlerinnen und Künstler und in einem Sonderförderprogramm durch die Beauftragte der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien unterstützt.

Etwa alle zwei Monate erscheint das Magazin mit Beiträgen von internationalen Künstler:innen, Kulturschaffenden und Literaten, die in ihren jeweiligen Sprachen das Thema Kunst aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen. Auch durch das Verteiler-Netzwerk aus Obdachlosen und Student:innen in verschiedenen Ländern sollen die Themen möglichst eine breite Leserschaft erreichen. „Unter anderem wollen wir den Gedanken aufbrechen, dass Obdachlosigkeit zwangsläufig Ignoranz bedeutet. Nur weil jemand seit 25 Jahren auf der Straße lebt, heißt das nicht, dass er oder sie nicht am intellektuellen Leben teilnehmen will oder kann“, formulierte die Mitgründerin Maria Ines Plaza Lazo 2018 in einem Interview mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus. Die bewusst einfach gehaltene Papierform seien Ausdruck einer Gegenbewegung gegen die Ausschlussmechanismen überteuerter Hochglanzmagazine für finanziell privilegierte Menschen.

Der Beitrag der Verkäuferin Nicole, der früheren Krankenschwester, muss noch weitererzählt werden. Nicole ist weder obdachlos noch studiert sie, aber sie gehört zu den vielen Menschen in Berlin, die – aus welchen Gründen auch immer – in prekären Verhältnissen leben. Hier ist ihre Geschichte:

„Nächstes Jahr im Frühjahr möchte ich wieder mit 15 Stunden anfangen zu arbeiten … Mehr als 30 Stunden die Woche will ich nicht mehr machen. Der Burnout war eine  schlimme Erfahrung und dahin will ich nicht zurück.“ Jahrelang, so schreibt sie, ging es immer um andere Menschen, nie um sie selbst. „Ich bin mit 40 Grad Fieber zur Arbeit gegangen, weil ich dachte, dass sonst die Station zusammenbricht. Es ist bescheuert, aber so war es. Leider gab es keinerlei Hilfe von meinem Arbeitgeber.“ Fünfmal monatlich Frühdienst, der Rest Spätdienst, drei von vier Wochenenden Dienst – und der Arbeitgeber wusste, dass sie ein kleines Kind hatte.

Kann man es ihr verübeln, dass sie zurzeit lieber Straßenzeitungen verkauft?        

VH          

Titelseite der 24. Ausgabe von Arts of the Working Class