Gewalt in der Pflege - Einzelfälle oder ein institutionelles Problem?
Gewalt hat bekanntermaßen viele Ebenen und ist nicht immer eindeutig als solche zu erfassen. Dies liegt unter anderem daran, dass wir Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Gewalt haben. Die Einschätzung, ob eine Aktion gewalttätig ist oder nicht, hängt dementsprechend stark vom sozialen, kulturellen und historischen Zusammenhang und ganz wesentlich vom persönlichen Vergleich ab. Auch kann Gewalt auf ganz unterschiedlichen Ebenen auftreten, beispielsweise auf psychischer, körperlicher, finanzieller oder struktureller Ebene, etwa in Form von Diskriminierung oder Mobbing.
Gibt es überhaupt eine allgemein gültige Begriffsbestimmung von Gewalt? Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat eine Definition veröffentlicht, die es lohnt, beachtet zu werden: „Gewalt ist der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation (Zustand der Entbehrung, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem; d. Redaktion) führt.“
Ebenfalls von der WHO stammt eine weitere Definition, bei der es um Gewalt gegenüber älteren Menschen geht. „Unter Gewalt gegen ältere Menschen versteht man eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion im Rahmen einer Vertrauensbeziehung, wodurch einer älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird.“
Diese Erklärung kann ohne Weiteres auch auf den Pflegebereich angewendet werden. Von Gewalt in Pflegebeziehungen spricht man schließlich überwiegend dann, wenn Pflegende – egal ob pflegende Angehörige oder professionell Pflegende – mit körperlicher Gewaltanwendung oder massivem Zwang in einer Pflegesituation etwas gegen den Willen der betroffenen Person durchsetzen wollen.
Dass Gewalt in der Pflege mitunter traurige Realität ist, wurde in „Birkenblatt“ bereits mehrfach während der letzten 20 Jahre thematisiert. Dass sie längst kein Tabuthema mehr ist, sondern angeprangert und bekämpft wird, verdanken wir solchen Einrichtungen wie „Pflege in Not“, jener Berliner Beschwerde- und Beratungsinstitution, die die Pflegestation Jahnke seit vielen Jahren nachhaltig unterstützt. Das Team um Gabriele Tammen-Parr leistet seit beinahe 20 Jahren Herausragendes in Sachen Aufklärung und aktive Beratung in pflegerischen Gewalt- und Krisensituationen.
Nun hat vor wenigen Monaten ein großer Artikel in der Fachzeitschrift „Die Schwester Der Pfleger“ die Diskussion über die Ursachen von Gewalt in der Pflege neu entfacht. Der Krankenpfleger und Gesundheitswissenschaftler Siegfried Huhn hat in einem mehrseitigen Interview die These aufgestellt, dass Gewalt nicht von einzelnen Tätern abhänge, sondern immer ein institutionelles Problem sei. Es seien nur selten Einzeltäter, die konsequent Grenzen überschreiten würden, vielmehr seien es Pflegeteams oder gar Einrichtungen, die eine Gewaltneigung zeigten.
„Ich glaube, dass ein Einzeltäter keine Chance hat, wenn er in ein Team kommt, das keine Gewaltneigung hat. Dann würde man ihn konfrontieren und sagen: ‘So gehen wir nicht mit Patienten um. Entweder du passt dich an unsere Umgangsweise an – oder wir müssen uns trennen‘. Ein Täter kann über längere Zeit nur zum Zuge kom-men, wenn seine Kollegen und die Leitung das mittragen“, erläutert Huhn seine Wahr-nehmungen.
Der Sozialmanager, der seit 1988 freiberuflich als Pflegeberater und Qualitätsentwick-ler vor allem in der gerontologischen Pflege unterwegs ist, befasst sich seit 25 Jahren intensiv mit der Gewalt in der Pflege und ist auch in diesem sensiblen Bereich als Berater tätig. Huhn unterscheidet drei Gewaltebenen: Grenzverletzung, Vernachlässigung und Misshandlung. Als Beispiel für eine Grenzverletzung erwähnt er die Umbettung einer Patientin, bei der eine Pflegerin der älteren Patientin Schmerzen zufügt. Anstatt sich zu entschuldigen, reagiert die Pflegerin gegenüber der klagenden Patientin mit den Worten: „Reißen Sie sich mal zusammen!“
Vernachlässigungen umfassen alle Versorgungsbereiche, wie absichtlich keine Kör-per- und Mundpflege durchführen, mangelnde Wundhygiene und Inkontinenzversorgung sowie nicht ausreichende Ernährung. Misshandlungen sind zumeist körperlicher Natur, betreffen aber auch die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen wie Fixierung und Verabreichung von ruhigstellenden Medikamenten.
In die Pflicht nimmt der Wissenschaftler alle Zeugen von Gewaltanwendung, also Kollegen, Angehörige und vor allen Dingen die Pflegedienstleiter und Qualitätsbeauftragten, die, wenn sie von solchen Vorfällen erfahren sollten, sofort handeln müssten. Huhn hierzu:
„Ein großes Problem ist, dass die Täter – auch bei brutalen Übergriffen – viel zu häufig entschuldigt werden. Ein Pfleger hatte beispielsweise absichtlich frisch gebrühten Kaffee auf die Hand einer Patientin gegossen. Die Frau kam ins Krankenhaus, der Arzt sagte: ‚Das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.‘ Er informierte die Polizei, und die Tat wurde offengelegt. Die Pflegedienstleitung sagte anschließend zu mir: ‚Wenn Sie die Bewohnerin kennen würden, würden Sie den Pfleger verstehen.‘ Dabei ist ein solches Verhalten doch ein Entlassungsgrund!“
Jede Pflegeeinrichtung, so die Empfehlung von Siegfried Huhn, sollte ein System installieren, das den Mitarbeitern erlaubt, Verdacht zu äußern, wenn diese etwas Konkretes gesehen oder gehört hätten. Das ist keine Denunziation, sondern gelebte pflegerische Fürsorge.
VH