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Gedanken über die ambulante Pflege und ihre Hauptdarsteller:innen

 

Als ich im Sommer 1996 den Auftrag von der Pflegestation Jahnke erhielt, ein Konzept für ein stationseigenes Magazin zu erstellen, wusste ich über die ambulante Pflege zweierlei: es handelt sich um Pflege an alten und/oder kranken Menschen und diese wird in den Wohnungen der Patient:innen ausgeführt. Mehr nicht. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich damals überlegte, ob ich dieses Manko thematisieren sollte. Besser nicht, entschied ich dann, ich muss mich einfach gründlich und so schnell wie möglich in die Materie einarbeiten.

Nun ja. Schon der erste Fachartikel geriet beinahe zum Desaster. „Das Modulsystem – Fluch oder Segen?“, lautete meine kühne Überschrift über einen Beitrag, dessen Inhalte ich wohl nicht in Gänze begriffen hatte, wie die Korrekturen des Ehepaars Jahnke bewiesen. Vor allem aber war mir damals nicht klar geworden, dass es sich bei besagtem Modulsystem um eine weitreichende, revolutionäre Änderung des gesamten Pflegesystems handelte.  

Berlin war 1996 das letzte Bundesland, das nach dem alten Modell der pauschalen Stundensätze zwischen den ambulanten Pflegestationen und den Pflegekassen abrechnen ließ. Ab 1997 wurde auch hier das Modulsystem eingeführt. Fortan gab es für jede pflegerische Leistung eine gewisse Anzahl von Punkten auf das monatliche Punktekonto der Patient:innen. War dann der zuvor errechnete maximale monatliche Punktestand erreicht und brauchte oder wünschte die Patientin oder der Patient weitere Pflege, dann musste diese aus der eigenen Tasche weiterbezahlt werden. Mit der Einführung dieses Systems begann der Zeitdruck auf das pflegende Personal kontinuierlich zu steigen. Man kann somit auch sagen: Die unbeschwerten Jahre der ambulanten Pflege waren vorbei, als ich begann, darüber zu schreiben. 

Je mehr ich mich mit der ambulanten Pflege befasste, je mehr ich recherchierte, las und mich mit dem Pflegepersonal unterhielt, desto mehr wurde mir bewusst, um was für eine segensreiche Einrichtung es sich handelt. Mithilfe der ambulanten Pflege und dank ihrer Hauptdarsteller:innen, den Krankenschwestern und -pflegern, ist es unzähligen alten und kranken Menschen gestattet, dort zu bleiben, wo sie in der Regel am liebsten sind: zuhause. Sie müssen nicht gegen ihren Willen in ein betreutes Wohnen, in eine Senioren-WG oder in ein Pflegeheim. Sie erhalten trotzdem alle pflegerische und hauspflegerische Betreuung, die nötig ist.

Dann kamen die Gespräche mit den Patientinnen und Patienten der Pflegestation Jahnke für die Artikel im Birkenblatt. Bei diesen Begegnungen erfuhr ich, dass die Besuche der Krankenschwestern und -pfleger mitunter die einzigen Besuche sind, die die alten Menschen überhaupt noch erhalten. Entweder gibt es keine Familienmitglieder mehr oder sie wohnen hunderte oder tausende von Kilometern entfernt. Wenn dann nicht Freunde oder Nachbarn einspringen, bleibt als Kontakt zur Außenwelt nur noch der Pflegedienst. Da wurde mir die soziale Dimension der ambulanten Pflege vor Augen geführt. Dass die Pflegestation Jahnke in Form des stationseigenen Patiententreffpunkts die soziale Komponente auf freiwilliger Basis noch förderte, empfand ich als außergewöhnlich und integer.

Mit der Zeit wuchs meine Bewunderung für die Frauen und Männer, die tagein tagaus zu ihren anvertrauten Patientinnen und Patienten fuhren. Sie taten dies früh am Morgen oder spätabends, bei Regen, Schnee, Glatteis, Stürmen oder bei 38 Grad Hitze. Etliche von ihnen fuhren und fahren nach wie vor sämtliche Schichten mit dem Fahrrad, andere mit den Wagen der Pflegestation. Wer dreimal hintereinander in Häusern ohne Aufzug in den vierten oder fünften Stock hinaufmarschiert ist, weiß, was Treppensteigen für Zeit und Kraft kostet. Wer weiß, wie mürrisch und übelgelaunt Patienten sein können (wie alle anderen Menschen auch!), weiß, dass nicht jeder Besuch einem Freudenfest gleichkommt.

Die Zahl der pflegebedürftigen Personen steigt kontinuierlich an. So gab es im Jahr 2013 nur 2,63 Millionen Pflegebedürftige, 2020 waren es 4,2 Millionen. Die meisten von ihnen werden zu Hause betreut, im Jahr 2020 waren dies vier von fünf Pflegebedürftigen. Während der Anteil der Personen, die in ihrem häuslichen Umfeld betreut werden, seit dem Jahr 2013 von 71 auf 80 Prozent angestiegen ist, ist der Anteil der stationär lebenden Personen über die Zeit rückläufig. Im gleichen Zeitraum ist dementsprechend  die Zahl der ambulanten Dienste von 12.700 auf 14.700 angestiegen. All diese Statistiken zeigen die stark gewachsene Bedeutung der ambulanten Pflege.

 

                           2013         2017           2020

Pflegeheime insgesamt

13.030

 

14.480

 

 

15.380

davon mit voll-stationärer Dauerpflege

10.949

11.241

11.317

Ambulante Pflegedienste

12.745

14.050

14.688

Statistisches Bundesamt, Januar 2021

Nur der gesellschaftliche Stellenwert der Krankenschwestern und -pfleger sowie der Hauspfleger:innen war nicht mitgestiegen. Es scheint mir aber, dass – sehr zögerlich und in kleinen Schritten – Besserung in Sicht ist. Die Pflege allgemein hat während der letzten Jahre viel für ihre Reputation unternommen, und die Bevölkerung ist sensibilisiert. Dabei meine ich nicht den Applaus, den die „systemrelevanten“ Pfleger:innen als „Helden“ in der schlimmsten Corona-Krise erhalten haben. Vom Applaus kann man nicht leben. Nach einer Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbunds haben 54 Prozent der Beschäftigten in Pflegeberufen große Probleme, mit ihrem Lohn auszukommen. Warum sollen diejenigen, die sich Tag für Tag für andere Menschen aufopfern, die in Notlagen immer präsent sind, schlechter verdienen als einfache Verwaltungsangestellte in Krankenhäusern?

Die ordentliche Erhöhung des Mindestlohns für Beschäftigte in der Altenpflege in 2022 war daher überfällig. Sie kann aber nur als Beginn einer Entwicklung angesehen werden. Weitere Schritte müssen folgen. Bald. Schnell. Damit auch in Zukunft junge Menschen noch Lust auf eine Ausbildung zur Pflegefachkraft haben. 

VH         

Weniger Zeit für die Patient:innen als früher