Gestern und Heute

Margit Wismar erzählt

 

Wer bitteschön soll hier denn 97 Jahre alt sein? Ein suchender Blick schweift in die Runde, landet ratlos bei Betreuerin Silke Redlich, dann erneut ungläubig zurück. Vier Damen sitzen am Tisch des Patiententreffpunkts der Pflegestation Jahnke und spielen Canasta. Sie sind so engagiert bei der Sache, dass sie den Besuch kaum registrieren. Warum auch, das Spiel ist offensichtlich in die entscheidende Phase gekommen und will seriös zu Ende gebracht werden. „Hier ist unser Geburtstagskind“, stellt Silke Redlich nach Spielende eine Dame vor. „Frau Wismar ist am Montag 97 Jahre alt geworden.“

Also doch, nicht zu fassen! Hätte die Betreuerin 82 Jahre gesagt, ich hätte ihr auf der Stelle geglaubt. Neugierig setzte ich mich neben sie und stelle mich vor. Margit Wismar* nickt kurz und freundlich und fragt: „Ja, was soll ich denn erzählen?“ Dann legt sie die Karten beiseite und ist schon mittendrin in der Berichterstattung. In Berlin wurde sie 1923 geboren, an der Grenze von Charlottenburg und Moabit in der elterlichen Wohnung am Landwehrkanal. Sie war das einzige Kind eines Einzelhandelskaufmanns und seiner Frau, die zunächst als Hausfrau arbeitete, nach dem frühen Tod ihres Mannes aber selbst Geld verdienen musste. „Es war hart für sie, aber sie hat es geschafft“, zollt Margit Wismar ihrer Mutter im Nachhinein noch höchsten Respekt.

Die Mutter hat der Tochter sogar die Handelsschule an der Perleberger Straße ermöglicht – die damals noch privat bezahlt werden musste – und somit die Mittlere Reife. Margit hat es ihr mit Fleiß und Tüchtigkeit gedankt. Nach der Ausbildung arbeitete sie an der Wilhelm-/Ecke Friedrichstraße beim Reichsamt für Landesaufnahmen, das für die Erstellung von Landkarten zuständig war. Als ihr Chef überraschend verstarb, musste sie mit ihren erworbenen Kenntnissen das Tagesgeschäft meistern. Es gelang ihr wohl sehr gut, „die Herren haben alle auf mich gehört“, lächelt sie.

Mit Mitte 20 lernte die junge Frau ihren späteren Mann Rudolf an einem ungewöhnlichen Ort kennen. Die frühere Konditorei Wulf in Alt-Moabit hatte einen großen Saal, der am Wochenende als Tanzlokal fungierte. Nach dem Tanz mit Rudolf folgten Verabredungen, lange Spaziergänge und schließlich die Ehe, aus der Hannelore (heute 66 Jahre) und Marianne (60 Jahre) hervorgingen. Rudolf war Rheinländer und angestellter Elektromechaniker, dessen Eltern ihm später ein Haus in Reinickendorf vermachen sollten. Dort wohnte das Ehepaar bis zu Rudolfs Tod, und dort wohnt Margit Wismar noch heute.

Gerne erinnert sich die 97-Jährige an die gemeinsamen Wanderurlaube in Österreich, bei denen die Töchter jedoch nur bedingt Lust aufs Wandern verspürten. Auch das Lesen von Reiselektüre gehörte zu ihren bevorzugten Hobbys. Dass sie heute vier Enkelkinder und Urenkelin Lina hat, erfüllt Margit Wismar mit Stolz und Freude. Und froh ist sie auch über ihre Besuche im Patiententreffpunkt, „weil wir alle so wunderbar harmonieren.“

VH  

*Name von der Redaktion geändert                   

Margit Wismar im Jahnke-Patiententreffpunkt