Birkenblatt
Nachgefragt
Interview mit Ursula Immenschuh, Professorin für Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft
Frau Prof. Immenschuh, innerhalb weniger Jahre haben Sie zwei Bücher über die Themenbereiche Scham und Würde in der Pflege verfasst. Was hat Sie an dieser komplexen Thematik gereizt?
In diese Thematik bin ich über die Geschichte einer Studentin eingestiegen. Diese junge Frau wurde eines Tages von einem Patienten mit einer MS-Erkrankung gebeten, ihn sexuell zu befriedigen, und sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Dieses Beispiel haben wir vor etwa 15 Jahren in die Diplom-Klausur für unsere Pflegepädagogik-Studierenden eingebaut. Mir war dann sehr schnell klar, dass das Thema Sexualität in der Pflege nicht ohne das Thema Scham behandelt werden kann. Damals habe ich begonnen, mich damit wissenschaftlich zu beschäftigen – und ich bin dabei geblieben. Es ist faszinierend, es ist tabuisiert und dennoch alltäglich wahrnehmbar.
Wen möchten Sie mit Ihren Büchern erreichen und was nehmen die Leser*innen an Informationen oder Handlungsanweisungen für den Alltag mit?
Die beiden Bücher möchte ich gerne unterscheiden. Das erste Buch „Scham und Würde in der Pflege“ zusammen mit Stephan Marks war vom Mabuse-Verlag als Ratgeber konzipiert, der sowohl pflegende Angehörige als auch professionell Pflegende ansprechen soll. Insofern enthält dieses Buch auch viele praktische Tipps im Umgang mit Schamsituationen. Es ist leicht zu lesen und überfordert Lesende nicht.
Beim zweiten Buch „Unerhörte Scham in der Pflege“ wollte ich die Scham von innen verstehen, denn die Scham sagt das Allermeiste selbst, wenn wir auf sie hören. Dieses Buch ist für all diejenigen gedacht, die sich damit noch intensiver befassen möchten, selbstverständlich auch für Pflegende. Ich gebe viele Seminare zu dem Thema in ganz unterschiedlichen Gruppierungen. Das Thema muss in die Gesellschaft transportiert werden, denn die Scham hat uns als Hüterin der Würde sehr viel zu erzählen. Sie zeigt uns, was in verschiedenen Situationen zu tun ist, wann der Blick abzuwenden ist und wann man jemanden eines Blickes würdigen sollte, wann man schweigen und wann aufschreien muss.
Können Pflegende die Scham eines Menschen überhaupt erkennen? Und wie ist das mit ihrer eigenen Scham, die sie bisweilen empfinden? Müssen sie sich – überspitzt formuliert – für ihre Scham schämen?
Wir schämen uns alle unserer Scham. Neurobiologisch ist die Scham zudem in der Hirnregion angesiedelt, in der sich auch der Schmerz und die existenzielle Angst befinden. Dadurch ist zu erklären, dass wir sie als schmerzhafte Emotion empfinden. Sie tut uns weh, wir wollen „in den Boden versinken“, wir reagieren auch vegetativ mit Schwitzen und Erröten. Die Scham ist eine massive Emotion, die uns nach außen zudem noch bloßstellt.
Pflegekräfte können sich in Akutsituationen eine Scham eigentlich gar nicht leisten, weil sie sie handlungsunfähig machen würde. Ein Rettungssanitäter sagte neulich: Ich muss manchmal im Einsatz Leute auf der Straße ausziehen, da kann ich mir doch keine Scham leisten. Das ist richtig, aber er kann vielleicht die Scham der anderen Menschen ringsherum spüren, denn die Scham ist eine der ansteckendsten Emotionen.
Man kann in Augenblicken der tiefen Scham kaum klar denken. Wir erleben einen Prozess, der uns vom von höheren Gehirnfunktionen in das „Reptiliengehirn“ führt. Der schambehaftete Mensch möchte nur noch der Angstquelle entkommen. Die Abwehrreaktionen sind dann kämpfen, fliehen oder totstellen. Übersetzt für die Pflege heißt das: manchmal werden wir aggressiv, manchmal erstarren wir, manchmal flüchten wir aus dem Patientenzimmer.
In der körperlichen Pflege kann die Scham besonders groß sein, nicht nur wegen der Sexualität. Patienten können sich alleine wegen ihrer Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit schämen oder wegen ihrer Inkontinenz. In Mehrbettzimmern gibt es vielfältige Quellen der Scham, etwa wenn der eigene Körper von fremden Menschen angeschaut oder angefasst wird und ganz häufig bei der Intimpflege.
Sie schreiben in Ihren Büchern auch von „positiven Funktionen der Scham“. Was konkret meinen Sie damit, und können Pflegende diese positiven Aspekte auch innerhalb der Pflege nutzen?
Die Hauptfunktion der Scham ist der Schutz. Sie hilft uns zu schützen vor den Blicken anderer, vor Übergriffen und Grenzverletzungen, vor Missachtung oder auch davor, unsere eigenen Werte zu verletzen. Die Scham warnt uns, wenn unsere Grundbedürfnisse verletzt werden. Darüber hinaus ist sie ein wichtiger Impulsgeber, uns zu verändern. Wer beim heimlichen Alkoholgenuss ertappt wird und sich deshalb schämt, kann dies zum Anlass nehmen, die Trinkgewohnheiten zu ändern oder sich um das eigene Alkoholproblem zu kümmern.
Auch in der Pflege gilt: wer sensibler für Scham ist, wird bewusster und würdiger mit sich und anderen umgehen.
In Ihren Büchern geht es Ihnen auch um eine menschenwürdigere Pflege. Was fehlt noch, damit Ihre Anregungen besser umgesetzt werden, dass die Pflege also tatsächlich ein Stückweit menschenwürdiger wird?
In der Pflegeroutine ist für Selbstreflexion wenig Platz. Häufig bleibt nur ein knappes Gespräch, um eigene Erfahrungen loszuwerden. Es bedürfte mehr professioneller Fallbesprechungen und Supervisionen, damit belastende Situationen wie tiefe Scham verarbeitet und ein Umgang damit gefunden werden können. Ein geschützter Rahmen ist hierfür unerlässlich.
Das Interview führte Volker Hütte